46. Nordische Filmtage Lübeck

Innenschau der draußen Gebliebenen

„Jarmark Europa“ (D 2003, Minze Tummescheit)

Der Kalte Krieg ist überwunden und gerade deshalb befinden wir uns in einer Nachkriegszeit mit all ihren Verwerfungen. Und mit ihren wenn nicht schwarzen, so doch grauen Märkten. Der „Jarmark Europa“ im Warschauer Stadion „Dziesieciolecia“ ist so ein Basar, wo man sowohl die Kriegsgewinnler als auch die nach ein paar Brotkrumen vom großen Kuchen des europäischen Marktes greifenden Draußengebliebenen jenseits der neuen EU-Außengrenze trifft. Letzteren widmet sich Minze Tummescheits Dokumentarfilm, namentlich zwei Frauen aus dem weißrussischen Penza, die einmal pro Woche die fast 2.000 Bahnkilometer nach Warschau zurücklegen, um auf dem „Jarmark Europa“ ihre Waren feilzubieten und sich so eine mühsame Existenz zu sichern.

Die ehemalige Chefärztin Kaleria, die einst in Sibirien gearbeitet hat und nun von einer kargen Frührente nicht leben kann, verkauft gebrauchte Uhren und allerlei Krimskrams. Swetlana handelt mit Büchern und CDs. Beide gehören sie zu den „Weberschiffchen“ genannten Frauen aus Weißrussland. Wie das Schiffchen auf dem Webstuhl reisen sie ruhelos hin und her, in der Hoffnung, von der europäischen „Wiedervereinigung“ wenn nicht profitieren, so doch in ihr überleben zu können.

Behutsam nähert sich Minze Tummescheit mit der Kamera den beiden Frauen, baut ein Vertrauensverhältnis auf, in dem sie anfangen zu erzählen und damit, so Tummescheit im Off-Kommentar, „die eigentliche Regie übernehmen“. Immer wieder reflektiert die Filmemacherin im Film das Filmemachen und hinterfragt ihre Funktion als Dokumentaristin damit nicht nur implizit, sondern explizit: „Wenn eine Person in die Kamera schaut, hat man den Eindruck, das ist die Wirklichkeit. Aber das ist nicht die Wirklichkeit, sondern nur ein Film.“ Noch offensichtlicher wird der Filmemacherin und damit uns ihr – bei aller Suche nach größtmöglicher Nähe zu ihren Protagonisten – „bloß“ dokumentarisches Unternehmen, wenn sie sinniert: „Eine Kopie dieses Films kostet 3.000 Euro. Dafür muss Kaleria drei Jahre arbeiten und 120.000 Kilometer fahren.“

Nicht zuletzt durch solche eindringlichen Vergleiche entsteht ein Porträt zweier Frauen, mit deren Dasein sich die Filmemacherin für die Zeit des Filmes eng verbindet und nur so der Wirklichkeit nahe kommt. Die Wirklichkeit wirklich zu zeigen ist auch dem Dokumentarfilm nicht von vornherein gegeben. Wirklichkeit muss errungen werden, auf den Jahrmärkten eines noch jung vereinten Europas ebenso wie hinter der Kamera. Minze Tummescheit gibt von beidem beredtes Zeugnis, indem sie nicht nur von draußen in das Innere ihrer Protagonisten schaut, sondern auch umgekehrt mit innigem Kamerablick auf die, die ein nur halbherziger europäischer Vereinigungsprozess für gewöhnlich draußen lässt. (jm)

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