Die lakonische Webcam – endlich im Netz
Kai Zimmer veröffentlicht „my me diary“ bei Youtube
Bewegte Bilder, in denen sich scheinbar nichts bewegt, kennen wir von Kai Zimmer, dem aus Kiel stammenden, jetzt in Berlin lebenden, gleichwohl immer wieder „auf Montage“ unter anderem in die Kieler Filmwerkstatt (die sein aktuelles Projekt auch förderte) zurückkehrenden Videokünstler und Fotografen. Jetzt geht Zimmer auf diesem Weg zwischen filmischem und fotografischem Bild einen Schritt weiter: Bei Youtube veröffentlicht er zwei seiner 24-Stunden-Videos unter dem Titel „my me diary“.
Kai Zimmer 1993 bei der Aufnahme von „Worldwide Tuned Parking Lot“
Parkplatz („Worldwide Tuned Parking Lot“), Kiel, Muhlius-, Ecke Legienstraße, ein Wochentag im Spätsommer 1993, 8 Uhr 45, gefilmt aus dem Fenster von Zimmers damaliger Wohnung. Die Rushhour ist bereits vorbei. So herrscht Ruhe, vereinzelt unterbrochen von einem röhrenden Motor aus dem Off zwei Straßen weiter. Ein Auto kommt, parkt ein – ein Ereignis. Oder wenn der Bus am „Bonanza Bus Stop“ (1996), der Endhaltestelle am Suchsdorfer Rungholtplatz, gefilmt aus Zimmers Kinderzimmer, im 73sten von 144 Zehn-Minuten-Schnippseln nach verdienter Pause wieder anfährt, das kurze Rund der Wende nimmt, um gegenüber zu halten und vereinzelte Fahrgäste aufzunehmen. Was hier Bewegung erzeugt, ist so etwas Prosaisches wie ein Fahrplan. Zimmer protokolliert ihn nach Art einer lakonisch dokumentierenden Webcam.
Still aus „Worldwide Tuned Parking Lot“ (Fotos: Zimmer)
Webcams gab es noch nicht, als Zimmer seine beiden 24-Stunden-Videos Mitte der 90er Jahre filmte (ergänzt um ein drittes, „Fluss / River“, das die Elbe bei Lauenburg zeigt, 2003 aufgenommen während eines Stipendiums im dortigen Künstlerhaus). Dennoch hatte er bereits damals die Idee, dass seine Kamera „worldwide tuned“ einsehbar sein müsste. Ein Konzept, das erst heute, gleichsam nachträglich und als „Webcam aus der Vergangenheit“ auf Youtube verwirklicht wird. Im „real space“ hatte Zimmer Ausschnitte aus „World Wide Tuned Parking Lot“ bereits 1996 bei der Artgenda in Kopenhagen gezeigt. „Bonanza Bus Stop“, dessen Titel auf die Wüsten in Western Bezug nimmt, wurde bei einem Konzert der „Gesellschaft für akustische Lebenshilfe“ (Hauke Harder) in der Stadtgalerie zu einem Werk von John Cage projiziert. Stills zu jeder vollen Stunde zeigte Zimmer 1999 in „Kombination 1“, einer Video-Foto-Installation zusammen mit dem Video „No Questions“, ebenfalls in der Stadtgalerie. Überhaupt fügen sich die beiden Tage(nacht)buchwerke nahtlos in sein Schaffen. Auch die Fotoserien „Like A Complete Unknown“, eine seit 1993 ständig ergänzte Sammlung von Fotos aus Fenstern von Zimmern, in denen Zimmer übernachtete, und „Zimmer frei“ (seit 1999), Fotos von ganz normalen bis skurrilen Hinweisschildern, ordnet er seinem „Medientagebuch“ zu.
Still aus „Bonanza Bus Stop“
Stoisch wirkt der Timecode, den Zimmer seinen Videos einblendet, wenn er sich minutiös abspult wie bei einer Überwachungskamera. Ein Takt, der umso hurtiger eilt, als sich nichts tut auf dem Parkplatz oder am Busstopp. Eine Chronologie des Wartens auf den „Kairos“, den Augenblick des Ereignisses. „my me diary“ ist insofern auch eine Studie über Zeit, deren buchstäbliche Langeweile – und somit wie so oft in Zimmers Werk über das Medium und seine (Un-) Zeitlichkeit an sich. Ein Kommen, ein (Ver-) Gehen, eine kleine Ewigkeit.
Eben der zuzuschauen, hat etwas ebenso Kontemplatives wie Magisches. Wenn sich die Zeit in den filmischen Stillleben davonstiehlt, wissen wir umso mehr von ihr, ihrem Lauf und dem der ganz alltäglichen Dinge – auf Parkplätzen und an Bushaltestellen des Endes, das schon immer ein Anfang allen Filmens und Fotografierens war. (jm)