Traumatisierte Seele

„Zuletzt befreit mich doch der Tod“ (Beate Middeke, Deutschland 2008)

„Wenn mir unfreiwillig oder freiwillig etwas zustoßen sollte, möchte ich, Gwendolin, genannt Kay, dass etwas mit den Sachen passiert, die ich erzählt und aufgeschrieben habe.“ Mit diesen dramatischen Worten beginnt Beate Middekes Dokumentarfilm „Zuletzt befreit mich doch der Tod“. Es sind die Worte seiner Hauptperson, die wir im Film niemals sehen werden, sondern nur in Form von Tagebuchzitaten und durch Erzählung anderer ein wenig kennenlernen. So erzählt Beate Middekes Film die Geschichte seiner „Heldin“ Gwendolin, die 2001, im Alter von 25 Jahren, mit Selbstmord aus dem Leben schied. Die Filmautorin und -regisseurin versucht, in Interviews mit Familienangehörigen, Freunden, Bekannten und Betreuern das Leben dieser jungen Frau zu rekonstruieren und dabei zu klären, was Gwendolin widerfahren ist, wie es zum Suizid kommen konnte.

Das Leben von Gwendolin war problematisch, schon von jungen Jahren an. Ihre Mutter heiratete ein zweites Mal, und so bekam Gwendolin als Kleinkind einen Adoptivvater, mit dem sie wohl von Anfang nicht zurechtgekommen ist. Ziemlich schnell stellt der Film klar, dass Gwendolin schon als sehr junges Mädchen ein Missbrauchopfer ihres Stiefvaters wurde. Sehr bald wird aus ihrem Tagebuch erzählt, wie sie nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von anderen Männern missbraucht wurde. Auch Gwendolins Mutter soll diese Handlungen gefördert haben, ja diese sogar mit ihrem Mann für pornografische Videos „kommerzialisiert“ haben.

Das Überraschende, ja Unglaubliche am Film ist nun, dass nicht nur Gwendolins Freunde, Geschwister und ihre Betreuer aus Frauenhäusern und anderen sozialen Einrichtungen, bei denen das Opfer zwischen seinen zahlreichen Psychiatrie-Aufenthalten Zuflucht fand, zu Wort kommen. Nein, Middeke hat es geschafft, dass auch die Mutter und der Stiefvater, die schon seit geraumer Zeit geschieden sind, sich ausführlich zu der gemeinsamen Zeit mit Gwendolin vor der Kamera äußern. Der Mutter scheinen alle von ihrer Tochter im Tagebuch für ihre Traumata erzählten Gründe unbekannt zu sein, obwohl sie sich sehr gut vorstellen kann, dass da etwas mit dem Stiefvater war („ein Kind, das sich so was antut und so einen Hass auf den Vater hat …“). Ansonsten gibt sie sich als allzeit fürsorgliche und liebende Mutter. Diese Selbstdarstellung bleibt fraglich und widersprüchlich, wie so vieles in diesem Film. Was ist wahr, was ist Lüge, was Fantasie, was Täuschung? Gwendolins Schulfreundin aus Kinderzeiten hat die Mutter als sehr gestrenge Person in Erinnerung, vor der nicht nur sie Angst hatte, sondern bei der auch Gwendolin auf wenig Verständnis bauen konnte.

Schon dieses kleine Beispiel zeigt, was der Film in Gänze hervorragend thematisiert und problematisiert, nämlich die Frage, was wirklich geschehen ist. Der Stiefvater gibt sich völlig ahnungslos, bricht, als er mit den ungeheuerlichen Vorwürfen konfrontiert wird, in hilfloses Lachen aus, was man als Zuschauer als mehr oder weniger geschickte Verstellung und Heuchelei interpretiert. Zu sehr ist dem Zuschauer zuvor durch kompetente Aussagen von anderen Personen bis hin zu einem psychiatrischen Gutachter bedeutet worden, dass Gwendolins Tagebuchaufzeichnungen unmöglich einer psychotischen Fantasie entsprungen sein können. Ihre Selbstmordversuche, Selbstverletzungen bis hin zur lebensbedrohlichen Selbstverbrennungen zeugen von einer Traumatisierung, die eine reale Ursache hat. Doch selbst hier gibt es eine gewisse Relativierung. Der psychiatrische Gutachter hält es für möglich, dass zum realen Kern des Missbrauchs viele andere Dinge, z.B. die Beteiligung der Mutter, durch Gwendolin hinzugefügt worden sind, und sei es unbewusst.

Da das Opfer den Missbrauch nie zu Anzeige gebracht hat, gibt es keine Bestraften, zumal auch hier der Gutachter zu Bedenken gibt, wie schwierig es für den psychiatrischen Laien gewesen wäre, also auch für die kriminalpolizeilichen Ermittler und Juristen, die Wahrheit zu ergründen. So bleibt am Ende die Aussage einer Mitarbeiterin des Mädchenhauses, dass es nicht mehr entscheidend ist, welche Teile der Geschichte im eigentlichen Sinne wahr sind und welche wahnhaft. Unübersehbar ist der verlorene Lebenskampf einer zutiefst traumatisierten und verzweifelten Seele. (Helmut Schulzeck)

„Zuletzt befreit mich doch der Tod“, Deutschland 2008, 76 Min., Video, Regie, Ton und Schnitt: Beate Middeke, Kamera: Justyna Feicht und Frank Wierke, Ton: Norbert Pobler; gefördert aus Mitteln der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen, der Kulturellen Filmförderung Schleswig-Holstein e.V., der Kulturellen Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern, der ULR.

Der Film läuft im Wettbewerb des 29. Filmfestivals Max Ophüls Preis in Saarbrücken (14. – 20. Jan. 2008).

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