Hille Norden stammt aus der schleswig-holsteinischen Filmszene. Die Weltpremiere von „Smalltown Girl“ auf dem Filmfest Hamburg ist etwas ganz Besonderes, da Hille Norden mit ihrem mutigen Film einen besonderen Umgang mit sexualisierter Gewalt an Minderjährigen und Kindesmissbrauch gefunden hat. „Smalltown Girl“ ist fordernd, explizit und emotional ziemlich heftig.
Ab hier können Spoiler folgen.
Triggerwarnung: „Smalltown Girl“ thematisiert Missbrauch Minderjähriger, sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung.
Nore (Dana Herfurth) wird nur von einer Frage angetrieben: wer fickt mich heute? Denn Nore fickt viel und gern. So ist sie eben, sagt man über sie und so äußert sie es auch selbst mehrfach im Verlauf des Films. So war es immer, sogar schon in ihrer Schulzeit. Als Nore von ihrer ehemaligen Mitschülerin Jonna (Luna Jordan) in einer schicksalhaften Nacht in ihre Wohnung eingeladen wird – Nore sagt, sie habe keinen Platz zum Schlafen, daher muss sie stets mit jemandem schlafen – tauschen die beiden mittlerweile Mitzwanzigerinnen Erinnerungen zu Gerüchten über Nore von damals aus. Durch eine Verkettung von Ereignissen zieht Nore mit Jonna zusammen. Zunächst zieht Nore Jonna in den Rausch aus Lust und Alkohol hinein, den sie als Lebensweg definiert hat. Doch nach einiger Zeit versucht Jonna herauszufinden, woher diese – durchaus als selbstzerstörerisch bewertbare – Lebenseinstellung von Nore stammt.
„Smalltown Girl“ ist autobiographisch und allein schon dadurch ein sehr mutiges Werk. Dass Hille Norden daraus kein Geheimnis macht und offen über ein viel zu oft gesellschaftlich zum Stigma stilisierten Thema spricht, macht diesen Film – zumindest für Opfer solcher Taten – zu einer möglichen Reflektionsfläche, da verdeutlicht wird, dass diese nicht allein sind in ihrem Schicksal. Kein Film auf dem Filmfest Hamburg hat mehr dafür gesorgt, dass während der Veranstaltung Besucher*innen den Saal verlassen haben. Das mag an der Ouvertüre von „Smalltown Girl“ liegen, in der sehr viel On-Screen Sex gezeigt wird, mit unterschiedlichen Partner*innen und so lange, bis auch die letzte Person im Saal erkannt haben dürfte, wie sich das Opfer fühlt: denn an dieser Form von Sex ist nichts mehr schön. Oder überhaupt relevant. Es geschieht, weil Nore es über sich ergehen lässt, weil sie glaubt, dass dies von ihr erwartet wird und es ihr Lebenszweck sein muss. Erst langsam wird das Erzählte intradiegetisch auf eine kritische, sorgenvolle Ebene verschoben. Im Verlauf lässt die Inszenierung wiederholt traumatische Episoden Nores einfließen, die Nore zunächst allein und dann mit Hilfe von Jonna erneut durchlebt. Hier liegt eine besondere Heftigkeit, aber auch eine der größten Stärken des Werkes, da es Mitgefühl mit Nore als Kind schafft. Selbst wenn die Vergewaltigungen und sexuellen Misshandlungen nicht explizit on screen gezeigt werden, leidet das Publikum als Zeuge dessen, was diesem Kind widerfährt. Aber noch viel heftiger als jene sexuelle Gewalt ist die Überzeugung von Nore, dass sie das ebenso wollte. Der Film endet an diesem Punkt nicht, arbeitet noch weitere traumatische Episoden auf, bis hin zu einem kathartischen Schlusspunkt, der zumindest hoffnungsvolle Töne anschlägt.
„Smalltown Girl“ ist zweifellos ein wichtiger Film, der einen unvorbereitet so heftig treffen kann wie eine Abrissbirne in vollem Schwung. Mutiges, aussagekräftiges Kino aus Deutschland, das eine Sichtbarkeit für Themen schafft, die in unserer Gesellschaft allzu oft übersehen werden. (Thomas Heuer)
„Smalltown Girl“ ist im Programm der 67. Nordischen Filmtage in Lübeck zu sehen.
Filminformationen
„Smalltown Girl“ (Internationaler Titel „Easy Girl“, AT: „Ficken für Freiheit“)
D 2025, 122 Min.
Regie: Hille Norden
Drehbuch: Hille Norden
Besetzung: Dana Herfurth (Nore), Luna Jordan (Jonna), Vera Fay (Nore, jung), Jakob Geßner (Michel), Jan Georg Schütte (Mattie), Marcel Heuperman (Justus), Johann von Bülow (Joseph), Wanja Mues (John), Julian Greis (Eddy)
Produzent*innen: Anette Unger, Sven Rudat
Produktionsfirma: Leitwolf Filmproduktion (www.leitwolf.de)
Verleih: Neue Visionen Filmverleih (www.neuevisionen.de)
Filmstills: © Neue Visionen Filmverleih
Plakat: © Neue Visionen Filmverleih
Sichtung: Filmfest Hamburg 2025


