Mit nicht weniger als vier Premieren war die Kieler Filmgruppe Chaos, die im nächsten Jahr ihr 50. Jubiläum feiert, am 12. Juni 2024 im KulturForum in der Stadtgalerie Kiel bei „FilmFörde #70“ zu Gast. Weiterer illustrer Gast: der ehemalige RAF-Angehörige Lutz Taufer, Protagonist des Hauptfilms „Jeder ist verantwortlich“, ein von der Filmgruppe Chaos auf schwarzweißen 16mm analog gefilmtes, handentwickeltes und geschnittenes Porträt über ihn.

Rund 50 Zuschauer*innen nutzten nach der Filmpremiere die seltene Möglichkeit, mit dem Zeitzeugen Lutz Taufer ins von Bernd-Günther Nahm moderierte Gespräch zu kommen. Wie der Film bewertete auch Taufer im Gespräch seine RAF-Vergangenheit solidarisch kritisch. Er war an dem Angriff des RAF-Kommandos „Holger Meins“ auf die deutsche Botschaft in Stockholm 1975 beteiligt, bei dem zwei Botschaftsmitglieder und zwei RAF-Mitglieder ermordet wurden bzw. zu Tode kamen. Nach einer z.T. Isolationshaft von 20 Jahren, worüber er ebenfalls eindrucksvoll im Film berichtet, kam er 1995 frei und arbeitete Anfang der 2000er Jahre in einer brasilianischen Favela für Emanzipation der von Armut und Ausbeutung geplagten Nachkommen der Sklaven aus Afrika. Wie im Film sieht Taufer auch im Gespräch in diesem Engagement eine Schlussfolgerung aus dem Scheitern der RAF und der Fortsetzung des anti-imperialistischen Kampfes für Freiheit und Emanzipation. Im Gespräch sagte er: „Wir [die RAF] haben uns als Teil einer weltweiten Revolution gesehen.“ Heute finde er jedoch nicht mehr, „dass welches Ziel auch immer welche Methode auch immer rechtfertigt“. Er beklagte, dass es innerhalb der RAF nie eine Reflektion und spätere Aufarbeitung der damaligen Strategien und Taten gegeben habe.

Von weiteren „Menschen im Mahlwerk der Verhältnisse“ (Karsten Weber, Filmgruppe Chaos) handelten auch die drei Kurzfilm-Premieren. In „Die Früchte der Norm“, einem Stummfilm mit kongenialer Live-Musik von Sänger und Saz-Spieler Cem Ücelehan, geht es um die erste Generation türkischer Gastarbeiter in Deutschland. „Confusionism“ bebildert die kapitalistische Ausbeutung im kommunistischen China. Und in „Kurts Schluß“, dem für manche beeindruckendsten Film des Abends, setzt Karsten Weber seinem verstorbenen Vater Kurt, u.a. politischer Aktivist gegen Atomrüstung der frühen Bundesrepublik und „der erste Öko, den ich kannte“, ein Denkmal, das einmal mehr zeigt, dass das Private politisch ist und umgekehrt. (jm)

„Uzun ince bir yoldayım“ („Ich bin auf einem langen und schmalen Weg“) von Âşık Veysel Şatıroğlu, vorgetragen von Cem Ücelehan als Live-Soundtrack zu „Die Früchte der Norm“ (Video: ögyr)

 

Weitere Infos zum Programm sowie Presseecho

 

Titelfoto: Karsten Weber (Filmgruppe Chaos, links im Bild) und Lutz Taufer im Gespräch (Foto: ögyr)
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