9. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide
Kleiner Führer durch das Programm der 9. „Augenweide“
Endlich einmal wieder machte ein Schleswig-Holsteiner einen Kino-Spielfilm, der auch noch in unserem Bundesland spielt. Kein Wunder, dass sich es das 9. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide nicht nehmen lässt, diesen Film zu seiner Eröffnung am 27. Mai 2005 zu präsentieren. „Am Tag als Bobby Ewing starb“ von Lars Jessen, der übrigens den diesjährigen Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken gewann, schon auf der Berlinale lief und jetzt auch in Cannes gezeigt wird, ist ein tragikomischer Abgesang auf die friedensbewegte Anti-Kernkraft-Protestzeit der 80er Jahre, die uns ein AKW nicht nur in Brokdorf bescherte und das trotz Tschernobyl. Man will es im ersten Moment gar nicht glauben. War es damals wirklich so, dass das wichtigste Medienereignis für Monate die Soap „Dallas“ war? Ja und dann erst: die beiläufige Routine, mit der der damalige Protest gelebt wird, in der Landkommune, bei den „Spielchen“ mit der Polizei vor dem Bauzaun des Kernkraftwerkes oder beim Highlight für Jungrebellen, dem Sprengen eines Strommastes. Und dann? – Ja, und dann passierte es wirklich: der Größte-Anzunehmende-Unfall. Ein Wunder, dass es uns noch gibt, mag man sich heute in einer Mischung aus Selbstironie und Nachdenklichkeit erinnern.
Am zweiten Filmfest-Tag stehen die beiden Dokumentarfilmprogramme am Nachmittag und am frühen Abend im Zeichen von Politik und Geschichte. Der Nachmittagsprogrammblock zeigt zuerst eine Reportage über europäische Revolutionstouristen, die sich als freiwillige Erntebrigardisten in Kuba verdingen, um zu demonstrieren, dass man „in der ganzen Welt Kuba nicht vergessen hat und bereit ist, für Kuba etwas zu tun“ (Filmzitat). Rasmus Gerlach schwankt in seinem „Reisefilm“ „Die Brigade“ zwischen Ironie und Respekt; wobei ersteres den verspäteten Revolutionären aus Europa gilt, letzteres der kubanischen Bevölkerung, die geduldig die Folgen des scheinbar unverwüstlichen Regimes erträgt. Der Lübecker Film „Filetstück“ von Miriam Rupp und Rolf Schwarz zeichnet in dokumentarischen Filmausschnitten und Interviews die Ursprünge und die Entwicklung der „Alternative“ in Lübeck nach. Anfangs als kurzer Film über die Geschichte des subkulturellen Zentrums geplant, wurde daraus eine Dokumentation über politische Entscheidungen und den daraus entstandenen Protest.
Das zweite Dokumentarfilmprogramm erschließt Geschichte über private Lebensausschnitte. „Geister“ von Immanuel Weinland wirft filmische Schlaglichter auf die abenteuerliche Biografie eines Mannes, der im Zusammenhang mit geheimdienstlichen Aktionen für fünf Tage König von Albanien wurde und später dieses ungewöhnliche Erlebnis „verwerten“ konnte. „Kiel in Bombenkrieg“ von Kay Gerdes liefert eine dokumentarisch-filmische Überraschung. Der Film arbeitet recherche-reich die Kieler Lokalgeschichte des Luftkriegs im Zweiten Weltkrieg auf, beeindruckt durch viele Erinnerungen von Zeitzeugen und zeigt bisher unbekanntes historisches Filmmaterial. „Zwischen den Grenzen“ von Laura von Bierbrauer und Luise Donschen erschließt in einem Kaleidoskop von persönlichen Erinnerungen und Bewertungen, wie „Zeitgenossen“ aus Ost und West die „Wende“ 1989 und ihre Folgen erlebten.
Das samstägliche Abendprogramm ab 20.30 Uhr widmet sich traditionell dem Kurzfilm. Ob Zeichentrick, Kurzdoku oder Kurzspielfilm. Alles kommt zu seinem Recht. Insgesamt stehen neun Filme auf dem Programm, die uns unter anderem zeigen, wie es sich mit dem Allerweltsnamen Lehmann lebt („Hauptsache Lehmann“), wie das Single-Leben „anturnen“ kann („Wie man unsichtbar wird“), wie ein Schneemann mit unfreiwilligen Reiseabenteuern zurechtkommt („Snowbody“), wie man sich die Zeit im Büro spannend verkürzen kann („Fuck me? Fuck you!“) oder dass auch Kakerlaken von Liebe träumen („Puppethotel“).
Neben einen kurzen didaktischen Film über die Falknerei im Mittelalter („Beizjagd in Starigard“ von Kurt Denzer) zeigt das erste Programm am Sonntagnachmittag Filme aus dem befreundeten Ausland. Zu sehen sind zwei Filme aus der finnischen Partnerregion Schleswig-Holsteins Ostrobothnia: eine Dokumentation über den großen Meteoritenkrater Söderfjärden in Finnland, die die geologische und sozialgeschichtliche Chronik des Kratergebiets erzählt („The Story of the Meteorite Crater – Söderfjärden“ von Örjan Ohls), und ein Musikfilm über den Songschreiber und Sänger der Heavy-Metal-Gruppe Motörhead Ian Lemmy Kilmister („Lemmy’s Shade“ von Mikael Paananen). Hinzu kommt der Film „Mo hitotsu no kyoiku / Lessons from a Calf“ von Koreeda Hirokazu aus Japan, dem diesjährigen Partner des Schleswig-Holstein Musikfestivals. Der Dokumentarfilm, der 2004 auch auf dem Filmfestival von Venedig zu sehen war (das Festival widmete dem bekannten und vielfach ausgezeichneten Regisseur eine Retrospektive mit sieben Filmen), begleitet einen Schulversuch in einer Grundschule in Nagano, bei der der Unterricht rund um die Aufzucht und Pflege von Tieren gestaltet wird. Diese besondere Schule entwirft eine Alternative zu der leistungsorientierten Tendenz an vielen japanischen Grundschulen, an denen die menschliche Bildung eine immer geringere Rolle einnimmt.
In „Kunst und Experiment“, dem zweiten Programmblock am Sonntag, sind fünf Filme zu sehen, darunter als Premiere Kai Zimmers zitatenreicher Experimentalfilm „Blaue Blumen“ über das romantische Natur- und Gefühlserleben und dessen triviale Konnotation sowie Widerstandsfähigkeit im Zeitalter globalisierter Massenmedien. Und der Film „Æ Smutsen – Ringe im Wasser“ von Maiken Detlefsen und Thomas M. Lampe, der einfühlsam das Leben des deutschen Malers Nordschleswigs und Wandervogels Niko Wöhlk (1887-1950) nachzeichnet.
Das abschließende Abendprogramm mit Preisverleihung (ab 20 Uhr) ist dem Thema Afrika gewidmet. In einer ironischen Verdrehung der Geschichte landet in „The Day Winston Ngakambe Came to Kiel“ von Jasper Ahrens ein afrikanischer Herrscher als wohlmeinender „Missionar“ und gönnerhafter Kolonalist zur Verdutzung der Sommergäste am Badestrand von Falkenstein in der Kieler Förde. Ebenso unterhaltsam „Chikwati – Hochzeit auf afrikanisch“ von Frank Peter Lehmann, eine Dokumentation über eine Eheschließung zwischen einem Deutschen und einer Sambianerin auf dem Schwarzen Kontinent. Ein Film voller afrikanischer Lebensfreude und Musik. In „Acrobats – The Story of the Urban Spaceman“ des finnischen Dokumentarfilmers Johan Karrento werden die Europäer mit afrikanischen Augen betrachtet. Afrikaner mit unterschiedlichen oder gar keinen Erfahrungen über unseren Kontinent sind die Erzähler des Films. Ihre Kommentare brechen zwischen Bilder unserer Wohlstandsgesellschaft und geben diesen Chiffren der ersten Welt einen für uns ungewöhnlichen Sinn. Und: Afrikaner erklären uns unsere Welt, so wie wir schon oft meinten, ihnen Afrika erklären zu müssen. (Helmut Schulzeck)