65. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2015
Zwei ungleiche Schwestern auf dünnem Eis
„My Skinny Sister“ (Sanna Lenken, Schweden/Deutschland 2015)
Stella ist elf, die jüngere Tochter einer schwedischen Mittelstands-Familie mit netten, aber gestressten Eltern und bis über beide Ohren in ihren Eislauf-Trainer verliebt. Aber selbst wenn der nicht wäre, gäbe es für sie nur ein wahres Ziel: eine Karriere im Eislaufen. Stella hat nicht den geringsten Zweifel daran, dass dies das Richtige für sie ist – obwohl ihre Trainingsergebnisse keinerlei Veranlassung dazu bieten. Und die nötige Eistänzerinnen-Figur hat sie erst recht nicht, was eigentlich allen klar ist – außer ihr selbst. Ganz anders ihre ältere Schwester Katja, der Stella aus vollem Herzen nacheifert: eine elegante Schönheit, die auf dem Eis alle verzaubert. Kein Wunder, denn sie trainiert täglich stundenlang und wird von allen rundherum, inklusive den eigenen Eltern, schon als zukünftiger Eislaufstar gehandelt.
Keine Frage, dass sich schon nach den ersten Filmminuten peinlich berührtes Mitleid mit Stella einstellt, die offenbar als einzige weder mitbekommt, dass ihr Leistungssportlerinnen-Traum die absolute Illusion ist, noch, dass der von ihr angehimmelte Trainer (gespielt von dem deutschen Schauspieler Maxim Mehmet) so gar kein Interesse an ihren Annäherungsversuchen hat. Regisseurin Sanna Lenken, die auch das Drehbuch verfasst hat, nutzt dies allerdings geschickt für einen Perspektivwechsel: Nicht Stella hat ein Problem, sondern in Wirklichkeit die ältere Katja, die an Bulimie erkrankt ist und dadurch nicht nur ihre Eislauf-Karriere, sondern ihr Leben in Gefahr bringt. Stella ist die erste in der netten schwedischen Schuhkarton-Familie, die von Katjas Ess-Brech-Sucht und ihren Zusammenbrüchen überhaupt etwas mitbekommt – und wird von ihrer älteren Schwester erpresst, nichts davon zu verraten.
Bereits 2013 hat die Regisseurin Sanna Lenken in ihrem Kurzfilm „Eating Lunch“ (auch vertreten auf der Berlinale) Ess-Störungen zum Thema gemacht. Nicht zuletzt eigene Erfahrungen brachten sie zur Idee von „My Skinny Sister“:“Ein Spielfilm über Ess-Störungen fehlte, fand ich. Schließlich sind sie unglaublich weit verbreitet: Ich würde sagen, jede zweite Frau leidet ihr Leben lang unter irgendeiner Art von Ess-Störung. („¦) Auch, wenn es für die Erkrankung verschiedene Ursachen gibt, würde ich sagen, dass eigentlich die Gesellschaft krank ist und der Ausbruch nur das Symptom für die Erkrankung der Gesellschaft ist.“ (Zitat aus der Zeitung „Göteborgs Fria“)
Amy Deasimont (l.) und Rebecka Josephson in „My Skinny Sister“ (Foto: Moritz Schultheiß)
Ohne mit dem moralischen Zaunpfahl zu winken, erzählt Sanna Lenken in „My Skinny Sister“, wie beschäftigt die – an sich liebevollen – Eltern mit sich und ihrem Alltag sind, anstatt Katjas Problem zu bemerken, das in der Familie immer mehr an Raum gewinnt. Dass es schließlich rauskommt, ist Stella zu verdanken, die sich über Katjas Erpressungsversuch hinweg setzt. Stellas und (auch) Katjas Coming of Age-Geschichte wird zum Charakterdrama, nicht aber zum Melodram. Welche Lösung gefunden werden kann, bleibt zum Schluss offen – aber keiner darf mehr weggucken. Und Rebecka Josephson und Amy Deasismont zeigen als Stella und Katja wunderbar authentisch, wie schwierig, herrlich und einzigartig Schwesternsein nun mal ist.
In Schweden wird der Film im Herbst 2015 unter dem Titel „Min lilla syster“ (dt. „Meine kleine Schwester“) in die Kinos kommen und somit nicht schon von vornherein vom Titel her wie „My Skinny Sister“auf die ältere Schwester Katja fokussieren. Sanna Lenken wollte einen Film für alle Altergruppen und übrigens auch für beide Geschlechter machen. Hierbei mag hilfreich sein, dass die Rolle der Katja durch den in Schweden bekannten Pop-Star Amy Deasismont alias Amy Diamond verkörpert wird. Und richtig: auch den Nachnamen „Josephson“ liest der Kino-Gänger nicht zum ersten Mal: Stellas Darstellerin Rebecka Josephson ist die Enkelin von Bergman-Schauspieler Erland Josephson.
Dass „My Skinny Sister“verschiedene Altersgruppen beeindruckt, hat sich auf der Berlinale bereits erwiesen: Durch die Wahl der Kinderjury Generation Kplus wurde der Film mit dem Gläsernen Bären für den besten Film ausgezeichnet. Aber auch die Internationale Jury (bestehend aus Erwachsenen) sprach eine Lobende Erwähnung aus: „Der Regisseurin gelingt es, ein anspruchsvolles Thema mit viel Humor und Charme zu behandeln und dabei gleichzeitig unangenehme Spannungen und tiefsitzende Gefühle zu vermitteln.“ Das hat das schwedische Publikum schon vorher geahnt: Beim Internationalen Filmfestival in Göteborg erhielt „My Skinny Sister“bereits Ende Januar den Publikumspreis für den besten nordischen Spielfilm. (gls)