Der von MOIN geförderte Ensemblefilm „Blindgänger“ ist in vielerlei Hinsicht eine positive Überraschung. Die Entschärfung einer alten Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg steht im Zentrum des Films. Die Bombe taucht bei Bauarbeiten im Hamburger Schanzenviertel auf und muss zeitnah unschädlich gemacht werden. Dabei bildet die Bombe die erzählerische Motivation, die allen verwobenen Handlungssträngen übergeordnet ist.

So folgt der Film den Konflikten und Krisen einzelner Personen, die entweder direkt oder indirekt von der Bombenentschärfung betroffen sind. Dabei gibt es vier primäre Erzählungen, die sich über den Verlauf des Films treffen und gelegentlich miteinander verschmelzen. „Blindgänger“ lädt das Publikum auf eine emotionale, sehr menschliche und einfühlsame Reise ein, die im Kinosaal ihre Wirkung zu entfalten weiß. Gelungen ist in diesem Zusammenhang, dass gängige theatralische Paradigmen und überzogenes Pathos weitgehend ausgespart werden.

Das Projekt hat eine Schaffensdauer von insgesamt sieben Jahren vorzuweisen. Es ist ein Herzensprojekt der Regisseurin, was man Kerstin Polte im Q&A nach dem Film ebenso anmerkt wie in ihrer emotionalen Anmoderation zuvor. Die MOIN Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein hat das Projekt seit dem Treatment finanziell unterstützt und an dessen Potential geglaubt, äußert eine der Produzentinnen in ihren Dankesworten. Die MOIN hat mit „Blindgänger“ einen Film gefördert, der zutiefst in Hamburg verankert ist und auch als eine Liebeserklärung an die Hansestadt gedeutet werden kann. Das Werk setzt sich für Mitmenschlichkeit, gegenseitiges Verständnis und einen freundlichen Umgang im alltäglichen Miteinander ein. Dies lässt „Blindgänger“ als ein Leuchtfeuer in dem aktuell so aufgeheizten und von Populismus geprägten sozio-kulturellen Klima erscheinen.

Filmstill aus „Blindgänger“: Barbara Nüsse, Karl Markovics (Foto: Katharina Bühler)

 

Beispielhaft soll die Begegnung einer vom 2. Weltkrieg traumatisierten Frau mit einem illegalen afghanischen Flüchtling betrachtet werden. Die Dame hegt Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund, stellt jedoch bald fest, dass sie und der Flüchtling eine Gemeinsamkeit teilen, nämlich die Erfahrung von fallenden Bomben und den Schrecken eines Krieges. Beide werden durch das plötzliche Auftreten des Blindgängers in Panik versetzt. Beide wurden vom Krieg traumatisiert und die Handlungen beider werden von Angst bestimmt. In diesem Kontext erinnert „Blindgänger“ daran, dass in Form von nicht detonierten Fliegerbomben die Folgen von Krieg in vielen Städten Deutschlands noch immer nur wenige Meter unter unseren Füßen zu finden sind. Dabei stellt der Film auch die Frage, wie die Deutschen eigentlich vergessen konnten, dass unter ihren Häusern bis heute Bomben liegen könnten.

Still aus „Blindgänger“: Claudia Michelsen (Foto: Katharina Bühler)

 

Die Erzählstränge gehen fließend ineinander über und zeigen dabei viele ungewöhnliche Begegnungen, die zu interessanten zwischenmenschlichen Perspektiven führen. Diese Ambivalenz in den Figuren, die ausnahmslos authentisch wirken, ist die größte Stärke von „Blindgänger“. Dass die Erzählung dabei nicht immer perfekt gelingt und vereinzelt ins Stereotype und selten ins Unlogische driftet, ist eine kleine Schwäche des Films. Auch hierfür soll beispielhaft eine Szene aufgezeigt werden, in der plötzlich der Vater einer der Figuren mitten in der Evakuationszone im operativen Zentrum der Einsatzleitung steht, weil er seinen Koffer mit dem von seiner Tochter verwechselt hat. Solche Elemente, um die Erzählstränge voranzubringen, wirken bisweilen absurd. Allerdings gibt es nur wenige solcher Momente, was in einem derart komplexen Filmprojekt mehr Schönheitsfehler als grober Schnitzer ist.

Insgesamt ist „Blindgänger“ ein ruhiger Film mit einem langen Nachhall. Die starke Botschaft des Werks offenbart den Wert des Films. Kleine Ungereimtheiten im Storytelling werden von sympathischen Figuren ausgebügelt.

„Blindgänger“ wird im Zuge der Nordischen Filmtage (6.-10.11.2024) in Lübeck seine Schleswig-Holstein-Premiere feiern. (th)

Filmplakat (Foto: missingFILMs)

 

Filminformationen

„Blindgänger“
D/CH 2024, 95 Min.
Regie: Kerstin Polte
Drehbuch: Kerstin Polte
Kamera: Katharina Bühler
Darsteller*innen: Anne Ratte-Polle, Haley Louise Jones, Claudia Michelsen, Lukas von Horbatschewsky, Bernhard Schütz, Karl Markovics, Barbara Nüsse, Ivar Wafaei
Produzent*innen: Andrea Schütte, Dirk Decker, Sarah Born, Rajko Jazbec, Dario Schoch
Verleih: MissingFilms
Filmstills: Katharina Bühler
Plakat: missingFILMs

 

Titelfoto: Filmstill aus „Blindgänger“: Anne Ratte-Polle, Haley Louise Jones (Foto: Katharina Bühler)
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