„One in a Million“, D 2022, 93 Min., Regie: Joya Thome

Identitätsfindung, Coming-of-Age findet heutzutage zu einem Gutteil in oder vermittelt von den Social Media statt. So auch bei den beiden jungen Frauen Whitney Bjerken, eine Leistungsturnerin, Youtuberin mit über einer Millionen Followern und Singer-Songwriterin aus den USA, und Yara aus Deutschland, einer ihrer treuesten Fans. Joya Thome begleitet beide in ihrem Dokumentarfilm-Debüt „One in a Million“ und ihr ist damit nicht zuletzt auch eine feinfühlige Studie über die sozialen Netze und ihre Wirkungen gelungen.

Nutzen versus Gefahren der sozialen Netze besonders für jugendliche Nutzer*innen sind schon länger in der Diskussion,. Auf der einen Seite der demokratisierende Aspekt, dass jede*r Nutzer*in nicht nur Konsument*in/Rezipient*in ist, sondern auch „Sender*in“ und „Produzent*in“. Auf der anderen Seite die drohende Vereinsamung in einer nur noch digital stattfindenden Kommunikation, zumal in einer Sphäre, wo der inszenierte Schein oft das wirkliche Sein überwiegt.

Whitneys Karriere als Leistungsturnerin ist von Anfang an untrennbar verbunden mit deren Dokumentation auf Youtube und anderen Social Media. Bei Training und Wettbewerben ist stets ihr Vater mit der Kamera dabei. Wobei oft die Frage entsteht: Wird hier das Turnen dokumentiert oder ist das Turnen eine inszenierte Darstellung, um ein Youtube-Video zu generieren, das möglichst viele Follower anzieht? Anders gefragt: Welches ist Sein, welches sein (Wider-)Schein – und was ist wichtiger? Eng damit verbunden ist die Frage: Was ist privat, was ist öffentlich, als wer erscheine ich und wer bin ich wirklich? In einem Interview berichtet Whitney von ihren allmählich aufkeimenden Zweifeln daran: „Wenn Leute diese Bilder von mir posten und sagen, dass ich so inspirierend bin, und ich mich aber gar nicht so sehe, dann habe ich das Gefühl, ich muss diesem Bild gerecht werden. Ich habe das Gefühl, dass ich dem entsprechen muss. Ich bin ein Idol. Sie sehen mich da oben, aber eigentlich bin ich da unten.“ Wenn Joya Thome Vater und Tochter beim Schneiden der Videos beobachtet, wird deutlich, dass diese Fragen durchaus unentschieden sind.

Nicht anders bei Yara. Sie ist nur eine unter Millionen Fans, die sich an Whitney orientieren, insofern weit entfernt von ihrem Identifikationsobjekt. Und dennoch wird sie aktiv, indem sie in ihren Reposts von Whitneys Videos auf ihrem Kanal #thebjerkentwins Whitney per Bildbearbeitung eine Zwillingsschwester „Britney“ hinzufügt, die sie so gerne wäre. Dadurch erregt sie Whitneys Aufmerksamkeit im Heer der Millionen Follower. Sie schafft also eine mediale Wirklichkeit, die über das Reale hinausgeht, der Schein wird zum Sein. Nichts anderes tut Kunst.

Wer bin ich und wo finde ich mich im Netz? – Intimer Blick auf Yara beim Blick auf ihr Idol (Foto: Flare Film / Lydia Richter)

 

Dies – ohne so viele erklärende Worte wie an dieser Stelle – zu zeigen, ist die besondere Stärke von Joya Thomes Film. Ebenso ein genaues Bewusstsein davon, dass die dokumentarische Beobachtung das Beobachtete stets beeinflusst. Es gibt Momente im Film, etwa wenn Yara mit ihren Freundinnen typische Mädchengespräche führt, die manchem belanglos erscheinen mögen, wo die Beobachterin (die Kamera) genau hinsieht und -hört, sich Zeit nimmt, ungemein präsent scheint, ohne das äußerlich, vom Set her, zu sein, eine mitfühlende Intimität zwischen Protagonistinnen und Zuschauer*innen herstellt.

Und noch auf eine weitere Weise nähert sich der Film seinen Protagonistinnen wirklich, statt sie wie manchmal die Social Media für eine Vordergründigkeit zu verraten. Wenn Yara in einer Aufklärungsschulstunde über Social Media sagt: „Das Abbild vedrängt die Wirklichkeit“, so ist es – und scheint es nicht nur so – hier anders: Umgang und Aktivität mit den Social Media lösen sowohl bei Whitney als auch bei Yara Entwicklungsschritte zu mehr Reflektion und zu einem anderen Sein aus, ein Erwachsenwerden des „Ich“ im besten Wortsinne. Ihnen durch den Film dabei zu folgen, ist ein schönes Erlebnis. (jm)

Der Film lief im Wettbewerb des 27. Filmfests Schleswig-Holstein als SH-Premiere. Bundesstart in den Kinos ist am 20. April 2023.

 

Titelfoto: Whitney Bjerken beim Selfies Schießen mit Fans (Foto: Flare Film / Lydia Richter)
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