23. Filmfest Schleswig-Holstein 2019 – Begleitprogramm LUSCHERN
Asynchron zwischen Hamburg und Tokyo
„Electric Girl“ (D 2018, Ziska Riemann)
So richtig fest im Sattel sitzt Mia schon zu Beginn nicht. Zwischen familiären Verpflichtungen, Konfrontationen mit dem chronisch missgestimmten Nachbarn, nächtlichem Thekendienst in einer Hamburger Feierstätte und großen Ambitionen als Poetry Slammerin bleibt wenig Raum für Schlaf, geschweige denn das Studium. Als zusätzlich ein Arrangement als Synchronsprecherin für die Anime-Protagonistin Kimiko zustande kommt, scheinen die Nähte ihres Lebens allmählich zu reißen. Und in diese sich andeutenden Öffnungen sickert zunehmend die Überzeugung Mias, dass sie auch im richtigen Leben identisch mit der magisch begabten Zeichentricksuperheldin Tokyos, der sie ihre Stimme leiht, ist.
Ziska Riemann ist schon lange kein unbeschriebenes Blatt mehr und kann auf einen immensen Output als Comiczeichnerin, Regisseurin und Musikerin zurückblicken. „Electric Girl“ ist ihr jüngster Spielfilm und führt einmal mehr ihre zahlreichen Tätigkeitsfelder zusammen.
„Electric Girl“: Mia Anime (Foto: NiKo Film LunanimeÌ)
Die erste Szene präsentiert ein Anime-Stadtpanorama, über dem ein gigantischer orangener Mond mit glühenden Flecken dräut. Hoch über den Dächern hält sich Vigilantin Kimiko einhändig an der Spitze eines Schornsteins fest, während ihr gelbes Cape im Wind flattert. Die Szenerie wirkt bedrohlich und friedlich zugleich. Kimikos Stimme legt sich über das Bild, und nach drei Worten sieht man nicht mehr den Rücken der blauhaarigen Heldin, sondern die Protagonistin im Synchronstudio, die den inneren Monolog der Kunstfigur aufsagt. Welten gehen ineinander über, und Mias gesprochenes Wort ist die Brücke zwischen ihnen. Die ersten Sekunden von „Electric Girl“ bereiten den Kern des Films bereits auf: Eine Bedrohung, die fern und doch umfassend scheint, ein eigensinniges Mädchen mit viel zu großen Aufgaben und die Amalgamierung verschiedener Realitätsebenen. Nicht nur Wahn, Anime und Wirklichkeit prallen dabei aufeinander, sondern auch die Vorstellung eines fantastischen Tokyos und Mias Hamburger Lebenswelt, während selbst Tag und Nacht ineinander verfließen. Die wachsende Dichte des filmischen Farbkonzepts und die zunehmende Verzahnung zwischen echter Welt und Anime-Spleens generieren dabei vermehrt auch beunruhigende Stimmungen. Die wenigen Einblicke in die Schwarzweiß gehaltene Manga-Vorlage wirken in alledem interessanterweise geerdeter als alle anderen Erzählebenen. „Electric Girl“ besitzt den Mut und die Fähigkeit, die thematisierten Strukturauflösungen noch etwas weiterzutreiben als inhaltlich ähnlich gelagerte Filme und ist vor allem deswegen konstant fesselnd.
Gemimt wird Mia von Victoria Schulz, die – damals auf der Straße entdeckt – seit „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ vor vier Jahren etliche Preise einheimsen konnte und deren Karriere (zuletzt als Regisseurin) seither nicht zu bremsen ist. An ihrer Seite spielt der theater-erprobte Hans-Jochen Wagner den zurückgezogenen, anfangs noch mürrischen Nachbarn Kristof angenehm reserviert und verleimt den bärbeißigen Erdgeschoss-Misanthropen damit zu einer überraschend spannenden Figur.
„Electric Girl“: Victoria Schulz als Mia (Foto: Hannes Hubach, NiKo Film)
Der eigentliche Star aber ist Hannes Hubachs vitale Kamera, die agiert, als befände sie sich direkt am Puls der Protagonistin, subtil aber eindringlich, verdammt nah, ohne anstrengend zu werden. Vor acht Jahren schon bewies „Lollipop Monster“, dass das Gespann Hubach/Riemann bestens funktioniert. Brachte ihm die Zusammenarbeit damals den Bayrischen Filmpreis für die beste Bildgestaltung ein, brilliert er in „Electric Girl“ nun ein weiteres Mal. Die satten Farben und die durchdachte Ausleuchtung sorgen nicht nur für eine eindringliche Visualität, sondern spiegeln auch die innere Welt Mias erfolgreich wider. Lediglich ein gediegeneres Schnitttempo wünscht man dem Film an manchen Stellen. Unter Strom, brutzelnd, funkensprühend ist nicht nur die titelgebende Protagonistin, sondern auch der Film selbst. Im Gegensatz zu seiner Heldin verliert er aber nie die Spur.
Riemanns ambitioniertes Werk begeht erfreulicherweise nicht den oft gemachten Fehler der Überzeichnung und Schwarz-Weiß-Malerei, wenn erzählt wird, dass eine fragile Persönlichkeit in einem überspannten Alltag nach und nach den Kontakt zur Realität verliert. Stattdessen bleiben die Geschehnisse bis zum Schluss ambivalent, und Mia wird bei all der Merkwürdigkeit ihres Verhaltens nie bloßgestellt; Film und Zuschauer bleiben ihre eng verbundenen Komplizen. Und umgekehrt wird die Mündigkeit des Zuschauers geachtet. Die Möglichkeit, dass hinter all dem mehr steckt als bloße Spinnerei, wird nie mit Absolutheit ausgeschlossen, was insbesondere an dem konsequenten Spiel mit der Fokalisierung liegt. So lässt der Film die Frage zumindest im Ansatz offen, ob sie Zitate der Anime-Rolle nur aus Jux in Alltagssituationen einbringt oder ob tatsächlich mehr dahintersteckt.
Auf diese Weise verkommt Mias Werdegang an keinem Punkt zu einem pflichtbewussten Abarbeiten erwartbarer Stationen und dem Abspulen von kraftlosen Klischees, sondern bleibt stets spannend und erfreulich unberechenbar. Die Frage, wer von den beiden Figuren – Mia oder Kimiko – nun das eigentliche Electric Girl ist, stellt sich als Ausgangspunkt der zentralen Identitätsverhandlung dar, in der eine Synchronsprecherin asynchron mit der Welt zu werden scheint. Dass all das, was erzählt werden will, tatsächlich ohne Zwang und den Eindruck von Überladenheit in 90 Minuten dargereicht werden kann, bedarf an dieser Stelle eines gesonderten Lobes.
Auch sonst übernimmt sich der Film trotz seiner hochgesteckten Ziele an keiner Stelle und scheitert auch da nicht, wo viele deutsche Produktionen gerne mal die Kontrolle über die Regler verlieren, sondern schafft es souverän über die Ziellinie.
Die hoffnungsvolle Fantasie von Siebenjährigen, die vor dem Ankleidespiegel der Eltern stehen und sich bebend die Frage stellen, ob in ihnen nicht doch arkane Superheldenkräfte ihrer Entdeckung harren, wird von „Electric Girl“ mit Geschick umformuliert und inbrünstig einmal durch Hamburg geschrien. (Martin Ramm)
„Electric Girl“, D 2018, 89 Min., Regie: Ziska Riemann, Drehbuch: Angela Christlieb, Dagmar Gabler, Ziska Riemann, Luci Van Org, Kamera: Hannes Hubach, Schnitt: Fridolin Körner, Ton: Ingo Frenzel, Produktion: Niko Film, A Private View, WDR – Westdeutscher Rundfunk, Wüste Film GmbH.
Der Film läuft im Rahmen von „LUSCHERN vor dem Filmfest“ am Do, 2. Mai 2019, 20:30 Uhr im Metro-Kino im Schloßhof.