69. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2019

Emanzipation von der eigenen Kultur

„Töchter zweier Welten“ (D 1990/1991, Serap Berrakkarasu)

Der etwa einstündige Dokumentarfilm „Töchter zweier Welten“ von Serap Berrakkarasu wurde im Rahmen der diesjährigen Retrospektive auf der Berlinale wiederaufgeführt. Die Lübecker Filmemacherin hatte vor bald 30 Jahren zusammen mit der Kamerafrau (und Dokumentarfilmregisseurin) Gisela Tuchtenhagen das Doppelportrait einer türkischen Mutter und ihrer 24-jährigen Tochter in Lübeck und der Türkei gedreht. Der Film lief 1991 in Oberhausen und im Internationalen Forum des Jungen Films während der Berlinale. „Töchter zweier Welten“ wurde nun für das Retrospektive-Programm, das dieses Jahr unter dem Titel „selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“ lief, ausgewählt und in Anwesenheit der Filmemacherin wieder aufgeführt.
Töchter zweier Welten: Meral und Seriban (Foto: Berrakkarasu)
Gleich zu Beginn des Films verortet Meral, die als Sechsjährige mit Vater und Mutter aus der Türkei nach Deutschland kam, ihre Heimat dort, wo sie aufwuchs. Und beschreibt schon im nächsten Satz den Zwiespalt einer jungen Migrantin: „Das Leben in Deutschland aber bietet mir mehr Möglichkeiten, insbesondere als Frau.“ Möglichkeiten, die sich Meral aber auch erkämpfen musste, denn die Familie hat ihre nationale Kultur mit nach Deutschland gebracht. Das bedeutete für die 17-jährige Meral eine arrangierte Heirat mit einem Mann, den sie nicht kannte und nicht liebte. Ihre Mutter Seriban sagt dazu im Film: „Aus Ängsten haben wir sie früh verheiratet.“ Die Ängste, von denen die Mutter ein wenig versteckt hinter ihrem Strickzeug erzählt, waren sehr real. Die Familie musste die Türkei aus finanzieller Not verlassen. Verständnis vom zurückbleibenden Teil der Familie und den Dorfbewohnern haben die jungen Auswanderer dafür nicht erhalten. Der jungen Familie wurden damals Beschimpfungen nachgerufen: „Nach Deutschland gehen nur Nutten.“ Ein doppelt schwerer Entschluss mit ungewissem Ausgang.
Albtraum Zwangshochzeit
Für Meral wird die Zeit nach der Zwangshochzeit schnell zum einem Albtraum, den sie ihrem schlimmsten Feind nicht wünschen würde. In der Hochzeitsnacht wird die Entjungferung vollzogen. Ihr Mann schlägt sie bald, ihre neue Familie respektiert sie nicht. Sie hat ihren Mann zu bedienen, Freiräume gibt es für sie nicht, selbst zum Frauenarzt kommt die Schwiegermutter mit. Meral erzählt, wie sie es schaffte, gegen die Widerstände der Familie ihres Mannes, eine Arbeit anzunehmen. Das war der erste Schritt in eine selbstgewählte Freiheit. Es folgte die abenteuerliche Flucht mit Hilfe der Kollegen zunächst in ein Frauenhaus (wo Berrakkarasu ihre Protagonistin kennenlernte) und die Rückkehr zu ihrer Familie, die erst nach und nach einsieht, dass sich ihre Tochter aus der Ehe befreien muss. In der Retrospektive (von 1990) sieht die Mutter ein, dass es einen Ausweg gibt: „Zwangshochzeiten sind immer noch die Realität, aber heute kann man sich scheiden lassen.“
Ungewisse Zukunft nach der Zwangshochzeit (Foto: Berrakkarasu)
Der Dokumentarfilm hat nichts von seiner Eindringlichkeit verloren, die Themen Migration und Emanzipation von kulturellen Traditionen nach der Migration in einer neuen Heimat sind nach wie vor höchst aktuell. Serap Berrakkarasu baute ihren Film formal streng auf: die Interview-Sequenzen sind im schlichten Setting gehalten, nichts lenkt von den Gesichtern und den emotionalen Geschichten der beiden Frauen ab. Berrakkarasu und Tuchtenhagen drehten aber auch in der Türkei, beobachteten und befragten eine junge Frau vor und während ihrer Hochzeit. Auch hier fließen Tränen. Die junge Frau kennt und liebt ihren Bräutigam nicht. Eine ungewisse Ehe steht ihr bevor, darüber trösten auch die bunten Schmuck- und Geldgeschenke Geschenke der Hochzeitsgäste nicht hinweg.
Für Meral und ihre Mutter Seriban endet der Film auf einer versöhnlichen Note. Die beiden Frauen reflektieren über ihre Geschichte und ihr Schicksal und kommen sich darüber näher. Die letzten Bilder zeigen einen Familienbesuch Merals bei ihren Eltern in gelöster Stimmung. Die Familie ist über Merals Emanzipation von ihren kulturellen Traditionen nicht auseinandergebrochen.
Filmerbe: Digitalisierung dringend notwendig
„Töchter zweier Welten“ wurde auf der Berlinale als 16-mm-Kopie aus dem Archiv der Deutschen Kinemathek vorgeführt. Ein Glücksfall, denn der Film liegt zur Zeit nur in dieser Form vor. Eine DVD ist nicht im Umlauf, eine Digitalisierung wurde bisher nicht vorgenommen. Damit ist der Film praktisch nicht verfügbar. Ein Schicksal, das „Töchter zweier Welten“ mit vielen Filmen aus den 90er Jahren (und davor) teilt. Connie Betz, Karin Hernst-Meßlinger und Rainer Rother schreiben dazu in ihrem Retrospektive-Buch „selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen“: „Zahlreiche Filme der jüngeren Filmgeschichte, etwa aus der Zeit von ca. 1980 bis zur Jahrtausendwende, konnten allerdings nur mit erhöhtem Aufwand aufgespürt werden. Diese Überlieferungslage muss als prekär eingeschätzt werden: Wenn ein Film nur noch als – oft stark abgespielte – Filmkopie bei der Produktionsfirma oder dem vormaligen Verleiher vorhanden ist, bedeutet dies auch, dass er öffentlich nicht mehr zugänglich und somit tendenziell unsichtbar geworden ist. Dies gilt auch für jene Fälle, in denen Filme nur noch bei der jeweiligen Regisseurin (oder dem jeweiligen Regisseur – das Phänomen ist ein allgemeines) vorhanden sind, sprichwörtlich auf dem Dachboden oder wo auch immer gelagert. Ausgangsmaterialien sind mit etwas Glück in filmtechnischen Betrieben oder dem Bundesarchiv/Filmarchiv enthalten.“
Höchste Zeit also, dass „Töchter zweier Welten“ und andere Filme aus der jüngeren Vergangenheit der filmischen Landesgeschichte dokumentiert und digitalisiert werden, damit sie für eine Wiederentdeckung und Wiederaufführung zur Verfügung stehen. Es sind nicht nur die bekannten Klassiker der deutschen Filmgeschichte, die es zu erhalten gilt, sondern auch und gerade die „kleinen“, künstlerisch wertvollen Filme der jüngeren Vergangenheit, die viel über unsere Identität und derzeitige gesellschaftlichen Entwicklung zu erzählen haben. (dakro)
„Töchter zweier Welten“, D 1990/1991, 60 Min., 16 mm Farbe/Ton, Regie & Konzept: Serap Berrakkarasu, Kamera: Gisela Tuchtenhagen, Schnitt: Maike Samuels, Ton: Serap Berrakkarasu, Produktion: Gülsen-Film, in Co-Produktion mit dem NDR Hamburg
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