DOK Leipzig 2017:

Nach der Angst: Für Frieden, Toleranz und Menschenwürde

Seit 1955 zeigt das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (kurz DOK Leipzig) einmal im Jahr eine Auswahl nationaler und internationale Produktionen, vergibt Wettbewerbspreise und kuratiert Retrospektiven und Hommagen.
Das diesjährige Festivalthema „Nach der Angst“ fokussierte den Blick auf die aktuelle, politische und gesellschaftliche Befindlichkeit angesichts von „Flüchtlingskrisen“ und Xenophobie, nationalistischen Tendenzen und allgemeiner Zukunftsangst. Die Festivalorganisatoren unter der Leitung von Direktorin Lena Pasanen wollten über die Auswahl des Programms der Frage nachgehen, was uns an diesen Punkt gebracht hat, was möglicherweise als Nächstes geschehen wird und wie wir eine Zukunft gestalten können.
Die folgenden Kurzkritiken sind natürlich nur ein kleiner, subjektiv ausgewählter Ausschnitt aus dem breiten, aber nicht beliebigen Angebot des DOK Leipzig 2017 Festivals. Es sind aber allesamt Filme, die ich nachdrücklich für eine Aufführung in Schleswig-Holsteiner Kinos empfehlen möchte:

Filmische Theaterinszenierungen von Milo Rau

Still aus „Die Moskauer Prozesse“ (Fotos: DOK Leipzig)
Der Schweizer Soziologe, Film- und Theater-Regisseur Milo Rau erregt mit seinen politischen Bühneninszenierungen regelmäßig weltweite Kritiker-Aufmerksamkeit. Rau geht oft über die tradierte Definition der Theaterinszenierung hinaus und erschafft scheinbar reale (aber tatsächlich künstliche) Situationen, in denen aber ein echter politischer Diskurs stattfinden kann. Auf dem DOK Leipzig 2017 waren zwei (seiner) Dokumentarfilme zu sehen, in denen diese Inszenierungen festgehalten und verdichtet wurden. „Die Moskauer Prozesse“ (D 2014) „verhandeln“ drei tatsächliche Strafprozesse gegen Moskauer Kuratoren und Künstlerinnen erneut, allerdings öffentlich und ergebnisoffen. Der bekannteste der thematisierten Strafprozesse dürfte die Anklage in der Folge des „Punk-Gebets“ der „Pussy-Riot“-Aktivistinnen in einer Moskauer Kirche sein. Das Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung wurden überwiegend von Journalisten, Literaten und Kulturschaffenden aber auch Juristen dargestellt, deren persönliche Meinung meist mit ihren „Rollen“ übereinstimmt. Als Zeugen wurden tatsächlich Beteiligte eingeladen. Die inszenierte Verhandlung wurde sowohl von Beamten der Einwanderungsbehörde wegen vorgeschobener Überprüfung von Visa als auch von politischen Aktivisten unterbrochen. Die Aussagen und Dispute wurden von tatsächlichen Beteiligten und Aktivisten sowohl der anklagenden, nationalistisch-orthodoxen, wie auch der liberalen Seite in vollem Ernst und mit Härte geführt. Im Falle der Anklage gegen „Pussy-Riot“ kam es in Raus ergebnisoffener Inszenierung zu einem knappen Freispruch.
Still aus „Das Kongo-Tribunal“
In seinem aktuellen Dokumentarfilm „Das Kongo Tribunal“ (D 2017) inszeniert Milo Rau in ähnlichem Stil ein symbolisches Tribunal über die Verbrechen im jahrzehntelangen, brutalen Bürgerkrieg. Noch erstaunlicher als bei den „Moskauer Prozessen“ ist die umfassende Beteiligung aller Beteiligten. Sowohl Opfer als auch Angeklagte, Polizei- und Regierungsvertreter der höchsten Ebenen, machen freimütig Aussagen, die durchaus nicht zu ihrem Vorteil sind. Ebenso erstaunlich ist das Ausbleiben von Tumulten im vollbesetzten Saal. Die Inszenierung wird scheinbar wie eine „ordentliche“ Verhandlung angenommen, in der der Vorsitzende den Saal auch mal zur Ruhe ruft und ihm Folge geleistet wird. Die geschilderten und verhandelten Verbrechen können nur stellvertretend sein für die mittlerweile 6 Millionen Todesopfer, die der Bürgerkrieg gefordert hat. Eine juristische Konsequenz hat das Tribunal natürlich nicht, was die Freimütigkeit der Aussagen erklären könnte. Das Interesse aller Parteien an einem öffentlichen (Er-) Klärungsversuch erstaunt jedoch ungemein. Allein dieses Interesse und unverfälschte Meinungen zu dokumentieren, ist ein großer Verdienst von Milo Raus inszenierten Verhandlungen. Ob sie einen Beitrag leisten kann, die Bürgerkriegsparteien, Opfer und Täter, an einen Tisch zu bekommen, wird man abwarten müssen.

Über Leben in Mecklenburg-Vorpommern

Still aus „Über Leben in Demmin“
Zwei Filme im Festivalprogramm beschäftigten sich mit dem Leben in den ländlichen Regionen Mecklenburg-Vorpommerns, seinem nationalsozialistischen Erbe und Gegenwart: „Wildes Herz“ (Charly Hübner, Sebastian Schultz, D 2017) portraitiert Jan „Monchi“ Gorkow, den Antifa-Aktivisten und Frontmann der Post-Punkband „Feine Sahne Fischfilet“. „Über Leben in Demmin“ (Martin Farkas, D 2017) spürt den Spätfolgen eines Massensuizids am Ende des zweiten Weltkriegs nach. Die beiden Filme korrespondieren über Ort und Thema, Protagonisten und Ereignisse.
Kurz vor der Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkrieges kommt es in der Kleinstadt Demmin an der nordostdeutschen Ostseeküste zu einem Massensuizid: Aus Angst vor Ermordung und Vergewaltigung durch die vorrückenden sowjetischen Truppen nehmen sich mehrere hundert Zivilisten Ende April und Anfang Mai 1945 das Leben. Martin Farkas spürt den tragischen Ereignissen nach, befragt Zeitzeugen, die die Verzweiflungstaten ganzer Familien mitansahen oder selbst knapp entkamen. Das Grauen jener Tage ist immer noch präsent, keiner der Befragten konnte eine emotionale Distanz aufbauen. In der DDR wurde das Trauma eher ignoriert, eine nachhaltige Aufarbeitung fand nicht statt. Heute nutzen Neonazis den Massensuizid als Anlass für einen jährlichen Trauermarsch am 8. Mai, der stets von Gegenprotesten begleitet wird. Die Behörden müssen den auf Jahre hinaus ordentlich beantragten Trauermarsch hilflos genehmigen. Martin Farkas sensibel hinterfragender Film zeigt: Die Wunde in Demmin bleibt offen und spaltet mehr oder weniger sichtbar, aber nachhaltig die Bevölkerung.
Still aus „Wildes Herz“
Jan „Monchi“ Gorkow ist einer der Antifaschisten, die sich in Demmin gegen die Neonazis stellen. Seine Band „Feine Sahne Fischfilet“ steht seit Jahren wegen Verdachts des Linksextremismus unter Beobachtung des Verfassungsschutzes in Mecklenburg-Vorpommern. Spätestens als die Nazis die Band für sich vereinnahmen wollte, positionieren die Punkrocker sich in ihren Texten gegen rechts und teilweise auch gegen die Staatsgewalt. Die Band löst immer wieder Kontroversen in Politik und Presse aus. Nicht selten entlarven sich die Kritiker dabei selbst als rechtslastig. Monchi und seine Bandkollegen organisierten zuletzt verstärkt während des Landtagswahlkampfes in Meck-Pomm Antifa-Konzerte mit prominenter Unterstützung (z. B. in Anklam mit Campino und Marteria). Doch der Weg zum politischen Aktivisten und energiegeladenen Sänger einer aufstrebenden Band führte für Monchi über Umwege. Charly Hübner und Sebastian Schultz zeichnen den Lebensweg Jan „Monchi“ Gorkows vom rebellischen Teenager zum gewaltbereiten F.C. Hansa-Fan. In der Ultra-Szene hätte Monchi in die Kriminalität abrutschen können, seine Eltern musste ihn damals schon mal über Hunderte von Kilometer aus dem Polizeigewahrsam abholen. Doch auch wenn er sich von der Ultra-Szene nach wie vor nicht distanziert, so hat Monchi doch einen anderen Weg eingeschlagen. Seine Wut und Energie kanalisiert er in seiner Performance als Musiker und seinem Protest gegen Rechtsradikalismus. Charly Hübner und Sebastian Schultz beschreiben passend schnörkellos ein charismatisches Raubein, dessen „wildes Herz“ für seine Heimat schlägt. Sein Werdegang hat viel mit der ideologischen Leere nach dem Zusammenbruch des DDR-Regimes, der steigenden Gewalt gegen Asylanten und dem Rechtsruck im Land zu tun. Monchi, „Feine Sahne Fischfilet“ und viele Engagierte in Mecklenburg-Vorpommern stemmen sich gegen die politische Verrohung und kämpfen für eine tolerante Gesellschaft. „Wildes Herz“ hat uneingeschränkte Sympathie für seine Protagonisten. Das spürt man und das ist aber auch gut so. (dakro)
Alle Preisträger des DOKLeipzig 2017 finden sich hier. Detaillierte Informationen und Kontaktdaten zum Vertrieb gibt es auf den Seiten von DOKLeipzig (im Filmarchiv) www.dok-leipzig.de.
  • „Wildes Herz“, Deutschland 2017, 90 Min. Regie & Buch: Charly Hübner, Sebastian Schultz
  • „Über Leben in Demmin“, Deutschland 2017, 90 Min Regie & Buch: Martin Farkas
  • „Die Moskauer Prozesse“, Deutschland 2017, 86 Min. Regie: Milo Rau
  • „Das Kongo Tribunal“, Schweiz, Deutschland 2017, 100 Min. Regie & Buch: Milo Rau
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