Ein Tag auf dem 18. Japan-Filmfest Hamburg 2017
Kaum ein Filmland steht bei Movie-Buffs so hoch im Kurs wie Japan. Seit die Filme von Regisseuren der „Goldenen Ära“ des japanischen Kinos wie Akira Kurosawa, Yasujiro Ozu oder Kenji Mizoguchi in den späten 50er Jahren über die Landesgrenzen hinaus bekannt und auf internationalen Festivals anerkannt wurden, steht das Filmland Japan als feste Größe auf der Karte des Weltkinos.
Nach den Erfolgen zeitgenössischer Familien- und Nachkriegsdramen (Gendaigeki) sowie Historien- und insbesondere Samurai-Filmen (Jidaigeki) zerbrach die japanische Nouvelle Vague zusammen mit den avantgardistischen Neo-Noir-Thrillern und den „Kaiju“ Monster-Filmen der 60er die altehrwürdige japanischen Kinotradition in tausend Stücke. Spätestens in den 70er Jahren kam es zu einer Explosion des Genre- und Exploitation-Kinos. Kleine, unabhängige Produktionen mussten sich gegen die Studios und das Fernsehen behaupten, härtere Yakuza- und die so genannten „Pinku-“ oder „Roman-Porno“-Filme waren die Antwort. Die 80er und 90er Jahre sahen gleichzeitig sensibles Arthaus-Kino, innovative Anime-Filme sowie ultra-brutale Yakuza- und Horror-Reißer.
Heute scheinen alle Genres und Spielarten des japanischen Kinos parallel zu existieren. Während aber z.B. die Berlinale für ihr Programm eher die feinsinnigen oder authentisch-beobachteten Gesellschaftsdramen goutiert und Altmeister wie Yoji Yamada in den Wettbewerb lädt, warf das Japan-Filmfest Hamburg nun schon zum 18. Mal einen weiter gefächerten Blick auf die japanische Filmproduktion.
infomedia-sh war dieses Jahr nur einen Tag auf dem Festival. Dabei kann natürlich kein repräsentativer Überblick des Festivals entstehen. Den bekommt man aber beim Stöbern im über 70 Filme umfassenden Festivalprogramm. Zwar liefen auch aktuelle High-Budget-Produktionen wie „Shin Godzilla“ (Hideaki Anno, Shinji Higuchi, JAP 2016) oder der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Mr. Long“ (Sabu, JAP 2017), aber der Fokus des Festivals lag insbesondere bei Filmen, die auf hiesigen Leinwänden kaum zu sehen sein werden.
Drastische Sex- und Gewaltfantasie: „Colonel Panics“ von Cho Jinseok
Und so stürzten wir uns nach dankenswert unkomplizierter, obwohl kurzfristiger, Akkreditierung durch das JFFH-Festivalteam im 3001-Kino in „Colonel Panics“ (JAP 2016) von Cho Jinseok. Ein drastischer Mix aus Cyberpunk und (S)Exploitation mit lynchesker Exposition um zwei Männer, die in unterschiedlichen Zeiten oder Realitätsebenen existieren, aber durch mysteriöse Weise miteinander verbunden sind. Der eine ist ein scheinbarer Normalo und Schriftsteller mit nationalistischer Gesinnung, der andere arbeitet als Virtual-Reality-Spezialist in einer nicht näher definierten Zukunft. Beide werden gespielt von Usuke Miyawaki, der die schwierige Aufgabe, zwei sehr unterschiedliche Charaktere zu portraitieren, auch recht ordentlich meistert. Irgendwie verschmelzen dann die unterschiedlichen Erzählebenen und lösen sich in einer visuellen und akustischen Sex- und Gewalt-Orgie auf. In Erinnerung bleibt insbesondere die krasse, mörderische Schlusssequenz inklusive Nekrophilie und Suizid. Beim Zuschauen entspannt auch der Gedanke nicht, dass wir es vielleicht nur mit einer Fantasie zu tun haben. Wie schon erwähnt: ziemlich drastisch, sicher provokativ, aber auch etwas zu sehr in die Länge gezogen. Das zumindest befand der kompetente Gast beim anschließenden Q&A: Yoshihiro Nishumura, eine Legende unter den aktuellen SFX-Künstlern im japanischen Film, der für mehrere Filme als Gast in Hamburg war. Für „Colonel Panics“ steuerte er beeindruckende Make-Up-Effekte bei, die das Publikum prompt zu einigen Detailfragen bewegten. Nishumura nahm sich die Zeit, die Fragen enthusiastisch und ebenso detailliert zu beantworten, und stand auch für ein anschließendes Foto-Shooting gut aufgelegt zur Verfügung.
SFX-Legende Yoshihiro Nishumura (m.) ist zum Posing für den Fotografen aufgelegt.
Nachdem die Grenzen des guten Geschmacks durch „Colonel Panics“ weit gedehnt waren, konnte man sich ganz entspannt auf die internationale Doppelpremiere von „Requiem 1“ und „Requiem 2“ von Junichi Yamamoto einlassen. Der erste Teil der Direct-To-Video Low-Budget-Produktion entwickelt sich als klassisches Yakuza-Drama um Higuchi, einen Boss mittlerer Hierarchiestufe, der seinen Yakuza-Bruder Yamazaki eliminieren soll, weil der mit seinen mörderischen sexuellen Perversionen den Clan in Verruf bringt. Nachdem der aber die Lunte gerochen hat, bringt Yamazaki Higuchis Sohn in seine Gewalt, um ihn auf Distanz zu halten. Wie der Zufall es will, ist aber Kommissar Hatsutori inzwischen der Stiefvater des Teenagers. Und so wird der Yakuza-Thriller unversehens zu einer patchwork-familiären Auseinandersetzung zweier Väter um einen Sohn, bei der sich beide zu einer unvermuteten Allianz gegen einen unberechenbaren Gegner gezwungen sehen.
„Reqiuem 1 + 2“: Yakuza-Thriller meets Giallo-Slasher in dieser launigen Genre-Variation von Junichi Yamamoto
Auf die Frage, warum er statt eines Langfilms lieber zwei mittellange Teile gedreht habe, antwortet Regisseur Junichi Yamamoto im Q&A entwaffnend ehrlich, dass der Produzent sich dies gewünscht habe, um doppelt so viele DVDs verkaufen zu können. Tatsächlich hat „Requiem 2“ aber einen deutlich humorigeren, leichteren Gestus, der dem Epos durchaus gut tut. Yamamoto erreicht das insbesondere durch vier zusätzliche Protagonisten: Die ziemlich schräge Inudo-Familie (Ehefrau, Tochter Sohn und Bruder) will den Tod ihres Oberhaupts mit allen Mitteln rächen. Ziel ihrer Rache ist Higuchi, der Inudo exekutieren ließ. Higuchi hat aber immer noch andere Sorgen (seinen gefährlichen Gegenspieler Yamazaki und dessen Mordbuben) und kann sich noch nicht einmal so recht an das Clan-Oberhaupt erinnern. Ein blutiger Reigen meist kläglich scheiternder Attentate entspinnt sich, in die auch noch Kommissar Hatsutori und seine neue, überambitioniert-tollpatschige Assistentin hineinstolpern.
Regisseur Yamamoto orientiert sich visuell und teilweise im dramaturgischen Aufbau an den italienischen Giallo-Filmen und gibt hier und da eine Prise Lynch bei. So musste er auf Wunsch seines Produzenten einem Schauspieler eine Rolle geben, obwohl das Casting längst komplett war. Kurzerhand erfand Yamamoto traumhafte Gesprächsszenen á la „Twin Peaks“ und ließ den Kommissar sich mit einem mysteriösen Fremden in einer leeren, rot-gestrichenen Bar treffen. Es sind dieser Hands-On-Produktionsstil, der absurde, blutig-komische Plot und die Spielfreude der Darsteller, die für einen sehr unterhaltsamen Genre-Mix sorgen. Man darf gespannt sein, was Junichi Yamamoto mit einem etwas größeren Budget anzufangen weiß.
Regisseur Junichi Yamamoto (l.) freut sich über den Zuspruch des Publikums und gibt ein paar Produktionsgeheimnisse preis.
Als Abschluss für den Festivaltag entschieden wir uns für „Karate Kill“ (Kurando Mitustake, JAP 2016) im Studio-Kino. Regisseur Kurando Mitustake war mit seinem letzten Festivalbeitrag „Gun Woman“ (JAP 2014) dem Festivalpublikum in bester Erinnerung geblieben. „Ein Film wie eine Abrissbirne“ hieß es damals in einer Kritik. Und auch der aktuelle „Karate Kill“ könnte ähnliche Reaktionen provozieren. Die Story verläuft gradlinig wie die ballistische Bahn eines Projektils entlang den Konventionen eines knochentrockenen Revenge-Thrillers. Der wortkarge Kenji finanziert das Studium seiner Schwester in Los Angeles mit miesen Handlanger-Jobs. Als seine Schwester plötzlich nicht mehr zu erreichen ist, macht sich der besorgte Bruder auf in die USA, wo er sich nur schwer verständigen kann. Gottseidank ist er ein ausgezeichneter Karatekämpfer und kann Kommunikationsstörungen mit ein paar gezielten Tritten und Handkantenschlägen korrigieren. Dass der abgerissen auftretenden Kenji von seinen zwielichtigen Gegnern immer wieder unterschätzt wird, ist natürlich ein steter Quell der Schadenfreude und Comic Relief beim geneigten Zuschauer. Es ist auch eine wahre Freude, Martial-Arts-Kämpfer Hayate (Kenji) bei der akrobatischen Vorführung seiner Kampfkunst zuzuschauen. Regisseur Mitsutake sorgt durch einen überbordenden Genre-Mix auch dafür, dass die Gelegenheiten für Kloppereien einfach nicht versiegen. Da Kenjis Schwester von einer durchgeknallten Sekte entführt wurde, die mit Todesduellen und Snuff-Clips über Internet-Streaming ihr Geld verdient, muss Kenji so ziemlich alle Duell-Situationen bestehen, die man sich nur vorstellen kann. Ein Beispiel: Das Duell gegen einen Samurai, eingesperrt in einen fahrenden Truck-Wagon.
„Karate Kill“ von Kurando Mitustake unterhält bestens mit jeder Menge feinster Old-School-Martial-Arts.
Man darf das Duell Old-School-Martial-Arts versus YouTube-Exploitation getrost als Plädoyer für echtes Kino mit analoger Aktion deuten. Die Old-School-Action gewinnt, klar, mit deutlichem Vorsprung gegen die Generation YouTube, die es sich vielleicht doch ein bisschen zu einfach macht. Aber man sollte diesen Subtext nicht allzu ernst nehmen und einfach die überbordenden Schauwerte von „Karate Kill“ genießen. Wir waren jedenfalls besten bedient. Nichtsdestotrotz bleibt anzumerken, dass in allen drei Filmen, insbesondere aber in „Colonel Panics“, Gewalt an Frauen recht häufig und sehr drastisch inszeniert ist. Welchem Affen hier Zucker gegeben wird, darf man gerne mal im anschließenden Kinogespräch hinterfragen, und nicht nur als Genrekonvention abhaken.
Wir können das Japan-Filmfest Hamburg nur nachdrücklich empfehlen. Viele japanische Gäste, eine familiäre Atmosphäre und ein wirklich gut sortiertes Angebot an aktuellen japanischen Produktionen, darunter etliche internationale Premieren, dürften jeden Filmfreund begeistern und nachhaltig zum Diskutieren anregen. Nächstes Jahr bringen wir auf jeden Fall mehr Zeit mit. (dakro, Sabine Waitzbauer)
„Colonel Panics“, Japan 2016, 96 Min., Farbe, Regie: Cho Jinseok, mit Usuke Miyawaki, Tia Tan, Sasa Handa, Satomi Hiraguri, Suguru Minami
„Requiem 1“ und „Requiem 2“, Japan 2017, je 71 Min., Farbe, Regie: Junichi Yamamoto, mit Haruhiko Kato, Yasukaze Motomiya, Matozou Mimata, Edamame Tsumami, Kaori Iida
„Karate Kill“, Japan 2016, 89 Min., Farbe, Regie: Kurando Mitustake, mit Hayate, Asami, Mana Sakura, Kirk Geiger, David Sakurai
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