20. Filmfest Schleswig-Holstein 2016
Blickwechsel zwischen Fremde und Heimat
Das 20. Filmfest Schleswig-Holstein blickt vom 17. bis 20. März ins (Film-) Land und die weite Welt
In die Nähe wie über den Horizont hinaus in die Ferne scheinen die hundert Augenpaare von Kieler Passanten zu schauen, die David Brych für den Trailer zum 20. Filmfest Schleswig-Holstein montiert hat. Solche Perspektivwechsel zwischen Fremde und Heimat könnten auch Motto sein für die Jubiläumsausgabe des Filmfests – und sind hoch aktuell, wie schon der Eröffnungsfilm am Do, 17.3.2016, 19 Uhr zeigt.
100 Augenpaare blicken in die Fremde und die Heimat (Still aus dem Filmfest-Trailer von David Brych)
In „Viacrucis Migrante – Kreuzweg der MigrantInnen“, seinem Dokumentarfilm-Debüt, zeigt der Videojournalist und Ethnologe Hauke Lorenz Menschen, die aus Südamerika in Richtung USA fliehen, eine Fluchtbewegung, die manche Parallelen zur gegenwärtigen Flucht von Millionen nach Europa hat. Arne Sommer, Leiter der Filmwerkstatt Kiel, die den Film technisch unterstützt hat, und als Leiter des Filmfests auch in der vier-köpfigen Programm-Jury, lobt an dem „mutigen Film“, wie „ungemein nahe Lorenz mit seiner Kamera an die die Menschen herankommt“. Und sieht es als „Glücksfall“, dass der Film neben seiner „virulenten Aktualität“ für gleich zwei der Schwerpunkte des Filmfests steht: den Dokumentar- und den Nachwuchsfilm. Auf solche fokussiert auch die Förderung der Filmwerkstatt Kiel, die neben dem Kino in der Pumpe und der Kulturellen Filmförderung S.-H. e.V. das Filmfest seit 1993 – ehemals unter dem Namen „Augenweide“ und anfangs als Biennale – veranstaltet.
Sprung aus der Heimat in die Fremde – Flüchtling in „Viacrucis Migrante“ (Foto: Hauke Lorenz)
Das Thema Flucht in seinen verschiedenen Facetten spielt in manch weiteren der insgesamt 42 Filme (plus drei Installationen) eine wichtige Rolle. Andreas Stevens’ „Tokat – Das Leben schlägt zurück“ beleuchtet mit drei ehemaligen Mitgliedern Frankfurter Jugendbanden die zuweilen schwierige deutsch-türkische Integrationsgeschichte (Sbd 18.30 Uhr). Mit „Erinnerungen an Masuren und Danzig“ (Sbd 14.30 Uhr) schlägt Kurt Denzer die Brücke zwischen den Themen Flucht und (verlorener) Heimat. Letztere wird nicht nur im Block „Kieler Kurze“ (Fr 18.30 Uhr), der Filme über Kiel versammelt, und mehreren Filmen des Nachwuchsprogramms (Fr 20.30 Uhr), die um den von der Kieler Produktionsfirma Nordfilm zum zweiten Mal ausgelobten Nachwuchspreis konkurrieren, aufgegriffen – auch in „Utbüxen kann keeneen“ (Sbd 16.30 Uhr). In dem plattdeutschen Dokumentarfilm blicken Gisela Tuchtenhagen und Margot Neubert-Maric auf die fremd anmutende Trauerkultur im heimischen Dithmarschen. Schwarzhumorig schaut der „Konzept-Teaser für Deutschlands erste Musical-Web-Serie“, Rainer Niermanns „Das tote Pferd von Plön“, auf die Heimat zwischen gelben Rapsfeldern und blauem Meer, zu sehen ebenfalls am Eröffnungs- und beim Kurzfilmabend.
Schwarzhumoriger Blick auf das Land zwischen gelben Rapsfeldern und blauem Meer: Kerstin Dietrich als Anika in „Das tote Pferd von Plön“ (Foto: Rainer Niermann)
Arne Sommer betont, dass „das Filmfest sich damit für neue multi- und transmediale Formate öffnet, die in unserem kleinen Filmland eine Zukunft haben“. Genauso mit den drei Installationen, die während des gesamten Filmfests im Gruppenraum 1 laufen und die Sommer „besonders am Herzen liegen“. Darunter die Premiere (mit Werkstattgespräch: Fr, 19 Uhr) von Sabine Linses siebenstündigem „Rites de passage II – The Cave“, wo sich die statische Kamera auf den Eingang eines Eiskellers beim Gut Hemmelmark richtet und die allmählichen Übergänge zwischen Tag, Nacht und den Jahreszeiten verzeichnet.
Perspektivwechsel im Lauf der Tages- und Jahreszeiten (Stills aus der Installation „Rites de passage II“ von Sabine Linse)
Blick- und Perspektivwechsel zwischen fremden und vertrauten Heimaten bieten neben Filmen aus den Partnerregionen Kaliningrad und Pays de la Loire (Nantes) ferner die „Faroe Short Docs“ (Sbd 14.30 Uhr) – Dokus über Menschen auf den Faröer Inseln, die im Rahmen des von der Filmwerkstatt mitgegründeten Netzwerks „Screen Talent Europe“ entstanden.
Zwischen den Welten und damit in beständigen Perspektivwechseln steht auch die Musik Jo Kondos, eines der interessantesten zeitgenössischen Komponisten Japans: Für seine Landsleute klingt Kondos Musik westlich, im Westen wird sie als genuin japanisch wahrgenommen. Die Filmemacherin Viola Rusche und der Komponist Hauke Harder haben Kondo bei einem Konzert in Amsterdam, bei Aufnahmen in Deutschland und in Japan begleitet. Ihr Porträt „A Shape of Time“ (Uraufführung: Fr, 15 Uhr, Kino in der Pumpe) zeigt den Komponisten bei der Arbeit und im Alltag und gibt in Interviews Einblick in die Grundlagen seines musikalischen Schaffens. Der Film ist nach „No Ideas but in Things“ über Alvin Lucier (2012) und „Zeile für Zeile“ (2015) über Ernstalbrecht Stiebler bereits Rusche und Harders drittes Porträt über Komponisten Neuer Musik.
Abgerundet werden die Blickwechsel zwischen Fremde und Heimat vom Publikumsmagnet Kurzfilmabend (Sbd 20.30 Uhr, moderiert von Jim Lacy), der nachfolgenden Preisverleihung und, so Arne Sommer, „noch einem Überraschungsfilm zu unserem 20. Jubiläum“. (jm)