65. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2015
Triumph und Langeweile
Ein kleiner und drei vorgebliche große Filme im Wettbewerbsprogramm einer ausufernden Berlinale
Kaum zu glauben, das Festivalgroßereignis Berlinale wächst immer noch, ist unersättlich, „mährt“ sich aus. Allmächtige Vielfältigkeit statt Konzentration. 441 Filme (2014: 409, 2013: 403) brachte die nun schon 65-Jährige in rund 1.200 Vorstellungen (einschließlich Pressevorführungen) vor insgesamt 500.000 Besuchern auf die Leinwand. In 11 Tagen auf 14 Programmschienen versuchte der Festivalkoloss, mit Filmen aus 72 Ländern so etwas wie ein Resümee des augenblicklichen cineastischen Universums zu ziehen.
Komisch, dass unsereins schon seit einigen Jahren das „Gefühl“ hat, das Programm würde von Jahr zu Jahr schwächer, wo doch allenthalben zu lesen und zu hören war, es sei heuer wieder ein „guter Jahrgang“ gewesen (so z.B. in der Rückschau von Maren Niemayer, Goethe-Institut).
Sitze ich immer in den falschen Filmen oder bin ich etwa nach über 30 Jahren Festivalbesuch zu verwöhnt oder womöglich zu nostalgisch? Ich vermisse z.B. die „großen Filme“. Selbst oder gerade Hollywood etwa hatte früher großartige Dramen auf dem Festival zu bieten, z.B. „Das Schweigen der Lämmer“, „Der mit dem Wolf tanzt“, „Der Pate III“, „The Thin Red Line“. Ist das, was die Berlinale zeigt, wirklich der Stand der Dinge im anspruchsvollen Kino, wie Festivaldirektor Dieter Kosslick bisweilen (vorbeugend, versteckt beschwichtigend) diagnostiziert? Quantität birgt immer die Gefahr der Beliebigkeit. Breite ist nicht alles.
Bezeichnenderweise hat denn auch ein so genannter „kleiner Film“ den Goldenen Bären gewonnen. „Taxi“ von Jafar Panahi, der im Iran seit Jahren mit Berufsverbot belegt ist und sich selbst in dieser Beschränkung oder vielleicht gerade deshalb regelmäßig aufs Kreativste filmisch auslebt, bringt mit einem Mockumentary humorvoll und kritisch nicht nur seine Misere auf den Punkt. Mit drei kleinen (meist fest installierten) Kameras in einem Taxi bestückt, präsentiert der Regisseur als Fahrer des Wagens Zeitzeugen durch ein, wie sich schnell herausstellt, gar nicht so alltägliches Teheran. Seine Fahrgäste werden als Repräsentanten einer Gesellschaft vorgeführt, die durch die politischen und sozialen Fährnisse des Mullah-Regimes nicht in ihrer Mitte ruht, sondern die repressiven Zustände einer selbst ernannten „Islamischen Republik“ erleidet.
„Taxi“ (Foto: Berlinale)
Ob es nun der Fahrgast ist, der sich gegenüber einer streitbaren, mitfahrenden Lehrerin energisch für die Todesstrafe als Abschreckung für einfache Straßendiebe ausspricht und sich selbst schließlich als Berufskrimineller enttarnt, die hysterische Ehefrau, die ihren blutüberströmten, verunglückten Mann ins Krankenhaus bringt und sein von ihm in grotesker Todesfurcht in Panahis Handy gesprochenes Testament unbedingt für sich sichern will, auch noch, als sich herausstellt, dass ihr Mann überleben wird. Oder Panahis 10-jährige, altkluge Nichte, die memorierend die restriktiven Regeln zur Herstellung selbst eines Schülerfilmes beklagt. Immer wird Gängelung und Unfreiheit einer streng religiös islamischen Gesellschaft deutlich. Das Leiden an der Wirklichkeit offenbart sich in Armut, Kriminalität, Rechtsunsicherheit, Mitläufertum, Aberglaube, Frauendiskriminierung. Die Kritik daran kommt in komödienhaften Szenen daher.
Im vordergründig verengten Blickwinkel einer scheinbaren Dokumentation, der sich auf die starre, halb-voyeuristische Position der Festkameras im Auto einlässt, welche meist nur Fahrer und Taxigäste beobachtet in ihren pointierten, oft komischen Gesprächen und nur bisweilen ein paar Blicke aus Front- und Seitenscheiben riskiert, ergibt sich die kluge auf Beschränkung und Konzentration zielende Erzählweise. Sie ist selbstverständlich auch den Produktionsverhältnissen der illegalen Dreharbeiten geschuldet, bei denen jeder der Beteiligten eine Strafverfolgung riskiert. Die politische Komödie „Taxi“ macht uns das Dokumentarische glaubend, ist aber doch in Wahrheit eine Abfolge einzelner stilsicher inszenierter, oft absurder Fahrgast-Episoden. Ein kleines Meisterwerk, das aus dem Wettbewerbsprogramm der Berlinale herausragte.
Vermeintlich große Filme, von denen das Publikum in Berlin viel erwartete, ließen es oft bestenfalls ratlos zurück. Allen voran lieferte „Knight of Cups“ von Altmeister Terrence Malick, ein intellektuelles und filmisches Desaster ab. Oder befindet sich der Drehbuchautor, Regisseur und Filmproduzent aus Texas, der sich mit seinen ersten drei Filmen („Badlands“, „Days of Heaven“, „The Thin Red Line“) nicht nur unter Cineasten beachtlichen Ruhm erwarb, seit „The Tree of Life“ nur auf dem Weg zu einer Transformation des herkömmlichen Kinos zu einer neuen cinematografisch-philosophischen Form, die unsereins noch nicht imstande ist zu begreifen? (Rüdiger Suchsland in „artechock film“ könnte einen dazu verleiten, solches in Erwägung zu ziehen).
Christian Bale und Natalie Portmann in „Knight of Cups“ (Foto: Melinda Sue Gordon, Dogwood Pictures)
Falls Malick innere Monologe der Figuren filmisch umsetzen wollte, so ist ihm das hier gründlich misslungen. Ebenso der versuchte Aufriss eines Gesellschaftstableaus der Reichen und der Schönen, wenn man das noch so nennen darf. Ich konnte den Film nur als einen Versuch wahrnehmen, der bei aller Kraftanstrengung des Regisseurs und allem produktionstechnischen sowie finanziellen Aufwand gründlich misslungen ist. Gefühlte drei Stunden (in Wirklichkeit waren es „nur“ 118 Minuten inklusive Abspann) versucht der Film, uns reichlich kontextarm, Lebensweisheiten und Einsichten zu verkaufen, nur aus dem Off gesprochen. Die Sinnsuche eines vielleicht (?) abgehalfterten Drehbuchautors muss ohne Geschichte auskommen. Nichts Lineares, nur elliptisches Experiment, kryptisch vernebelt. Es gibt bestenfalls Handlungsfetzen, nicht einen Dialog, maximall zwei Minuten Text im On, gesprochen von Armin-Müller Stahl im Priestergewand, der gegen Schluss zu aller Überraschung noch auftaucht. Anstatt dessen aus dem Off geraunte Psdeudo-Philosophie, meist irgendwelche „Gewissheiten“, deren Logik banal oder unverständlich bleibt. Was wir sehen, sind beeindruckende Landschaften im schönen Licht, mit Sinn fürs Malerische und Dramatische eingefangen, attraktive Designer-Appartments in einer gelackten Werbefilm-Ästhetik, meist mit Swimmingpool, schöne Frauen, inspirierende Bilder von Los Angeles und Las Vegas. Jede Menge Darstellerprominenz: von Christian Bale über Cate Blanchet und Natalie Portman bis hin zu Antonio Banderas, die sich im sinnentleerten, prätentiös stillstehenden Getöse auf den Sets zu bewähren versuchen. Frei nach dem Motto; Menschen am Pool, Menschen am Strand, Menschen im Loft. Aber das ist es auch schon. Früher hätte man vom Geschehen gesagt, der Jet Set langweilt sich, soll er doch; heute kann man nur bedauern, dass so ein talentierter und fantasiereicher Regisseur wie Malick seine Begabung und Inspiration verschleudert und uns damit langweilt.
Das russische Gegenstück zu „Knight of Cups“ im Wettbewerb war „Under Electric Clouds“ („Pod electricheskimi oblakami“) von Alexey German Junior. Kann man in Malicks Film ein Zu-Grunde-Gehen bzw. Scheitern an und in einer gelackten Welt der Reichen und Schönen attestieren, so ist in German Jrs. allegorisch überfrachteter Bestandsaufnahme der russischen Gesellschaft der seelische und materielle Niedergang in einem unfertigen, fragmentarischen Ruinenbiotop zu beobachten, das nur noch von einer öden Weite aus weißer Kälte und die Sicht verklärendem Nebel optisch übertroffen wird.
„Under Electric Clouds“ (Foto: Berlinale)
Der Ausgang ist negativ, auch wenn verbal von den Figuren das Gegenteil behauptet wird. Die Tochter eines reichen verstorbenen Bauherrn kehrt zurück und muss mit dem Erbe ihres Vaters fertig werden, muss entscheiden, ob sie sein unfertiges, letztes Bauwerk zu Ende bauen lässt. Die ziemlich dürre, oft unverständliche Geschichte wird von einem eigenartigen Panoptikum äußerlich und geistig abgerissener Figuren bevölkert. Ein kirgisischer Bauarbeiter, der seine Kollegen suchend umherirrt und in der eisigen Zivilisationswüste vor sich hinvegetiert, zeitigt die stärksten Bilder. Andere wie ein dezent lamentierender Architekt und ein Touristenführer, der in seiner Vergangenheit gegen die Gorbatschow stürzen wollenden Putschisten gekämpft hat, irren durch die wenigstes überzeugenden Sets; dazu eine riesige Pferdeskulptur aus Metall, natürlich Lenin als Denkmal, der wo auch immer hindeutet, und unerklärliches Nasenbluten, das manche der eigentlich nicht Handelnden mitunter befällt. Alles ist letztlich unaufgeregte Erregungslosigkeit aber Gleichnis, meist vieldeutig und rätselhaft zugleich, führt ins Nichts oder zum leeren Ende. Albtraumhaft laufen und reden die Personen an einander vorbei, retten sich in Selbstgespräche. Eine trostlose Welt in einer trostlosen Zeit.
In sieben Kapiteln wird schwermütig und in einer das Verständnis sehr erschwerenden Intellektualität die russische Seelenlandschaft ziemlich humorlos umgepflügt. In trübem Cinemascope-Theater jagt eine Plansequenz die nächste. Surreale Ausstattungsideen beglaubigen mit trotzigen Fingerzeigen den Untergang. An die verstörende poetische Kraft und den genialen bildlichen Zauber eines Magiers wie Tarkowski reicht German Juniors immerhin manchmal verstörende Endzeit-Vision bei weitem nicht heran, erliegt sie doch in ihrer harten, unermüdlichen Redseligkeit der Verführung zum Kunst-Wollen und auf Dauer der Langweiligkeit.
Wie eitel die Produktion eines früher einmal als aufregend anerkannten Filmkünstlers sein kann, beweist der neueste Film von Peter Greenaway „Eisenstein in Guanajuato“. Möchte Greenaway provozieren und Meisterregisseur Eisenstein (auch humorvoll) entzaubern und ihn dafür als hilflos sexuell Hörigen und Hedonisten der Lächerlichkeit Preis geben? Vielleicht nicht, vielleicht ist Greenaway nur Opfer einer eigenen Obsession. Doch die kleine rote Flagge, die Eisenstein von dessen mexikanischen Liebhaber nach einem in aller Ausführlichkeit zelebrierten Geschlechtsakt zärtlich triumphierend in den Allerwertesten gerammt wird, nachdem sich dieser zu Beginn der Episode genüsslich in aller Deutlichkeit seinen Riesen-Penis massiert hat (der aus halbnaher Perspektive gefilmt wurde und vielleicht ein gefaktes (?) Imitat ist), ist Requisit einer Szene, die an Geschmacklosigkeit und Impertinenz nichts zu wünschen übrig lässt. Diese Beischlafsequenz erweist sich in Greenaways Film über Eisensteins mexikanisches „Filmabenteuer“ als zentrales Motiv genau in der Mitte des Films. Eisenstein, der 1931 nach seiner Erfolglosigkeit in Hollywood in dem US-amerikanischen Erfolgsschriftsteller Upton Sinclair einen Finanzier für seinen unvollendet gebliebenen Film „Que Viva México“ findet (ein Werk über die Geschichte und Gegenwart Mexikos und seine Entwicklung zu einem modernen Staat), kommt nach Guanajuato und erlebt hier sein Coming Out, was für Greenaway, obwohl nur Spekulation, wichtiger ist als alles andere. Denn Eisensteins Filmarbeit entwickelt sich in dieser absurd albernen Tragikomödie immer mehr zur Nebensache, wird mehr und mehr von seinen Mitarbeitern am Laufen gehalten und ist von glücklichen Zufällen geprägt. Der russische Regisseur lebt sich im Laufe der Zeit immer mehr als exzentrischer Lebemann aus, denn als eigenwilliger Künstler.
Elmer Bäck als Eisenstein in „Eisenstein in Guanajuato“ (Foto: Berlinale)
Er verprasst das von Sinclair kommende Geld, vertröstet ihn mit der Fertigstellung auf später und gibt sich willig als manipulierbares Opfer seinem mexikanischer Führer und Verführer hin, der ein verkappter Agent Stalins ist. Was bleibt, ist der von Sinclair erzwungene Abbruch Eisensteins Aufenthalts in Mexiko und sein unvollendeter Film. Das und mehr Wissenswertes erfahren wir eher aus dem Abspann. Alles, was im Film an ernsthaften Aspekten für Eisensteins Umdenken im Hinblick auf sein Verhältnis zum Sowjet-System, seine künstlerische Entwicklung und sein finales Scheitern gezeigt wird, wird mehr behauptet, denn ehrlich und glaubhaft dargestellt. Die grenzenlose Posse um Eisensteins aufbrechende homoerotische Neigung und seine hedonistische Trägheit überlagert jede aufrichtige Behandlung der tatsächlichen Geschehnisse in Mexiko, die einen besseren Film verdient hätten. (Helmut Schulzeck)