64. Int. Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2014

Berlinale platzt aus allen Nähten

Ein Rückblick auf den Wettbewerb

Die 64. Berliner Filmfestspiele hatten im Wettbewerb eine mittelprächtige Konkurrenz zu bieten, platzten ansonsten mit ihren diversen anderen Programmsektionen, Nebenreihen, Retrospektiven etc. aus allen Nähten. Insgesamt wurden 409 Filme in 959 Vorführungen und 157 Pressevorführungen gezeigt. Dazu kamen für ein Fachpublikum noch einmal 922 Vorführungen auf dem Europäischen Filmmarkt.
Aus einem gewaltigen Filmangebot (von 9 Uhr morgens bis nach Mitternacht) galt es auszuwählen in den Programmsparten Wettbewerb, Panorama, Forum, Forum Expanded, Perspektive Deutsches Kino, Lola@Berlinale, Generation Kplus & 14 plus, Berlinale Shorts, Berlinale Special, Berlinale Classics, Retrospektive, Hommage, Kulinarisches Kino, Cross Section, NATIVe dazu noch Berlinale Goes Kiez, Berlinale Talents, European Film Market, diverse andere Nebenveranstaltungen und so weiter und so fort. Und so rühmte sich schon im Vorfeld der Berlinale Festivaldirektor Dieter Kosslick, das mit rund 500.000 erwarteten Kinobesuchern größte Publikumsfilmfestival der Welt durchzuführen: „Klingt gut, ist gut.“ (Kosslick im Presse-Reader zur Programm-Pressekonferenz der Berlinale 2014). Nun ja, es ist sicherlich eine beachtenswerte Leistung, über 400 Filme aus 6.775 angemeldeten auszuwählen, über 1.000 Vorstellungen routiniert gut über die Leinwände zu bringen, rund 20.000 akkreditierte Presseleute und Fachbesucher zu betreuen, über 330.000 Eintrittskarten zu verkaufen, alle offiziellen Gäste zufriedenzustellen und die Hauptstadt sowie die Kulturpresse des Landes so öffentlichkeitswirksam einzubinden, wie es Kosslick und der gesamten Berlinale-Crew gelungen ist. Der Mammutbetrieb des Festivals lief im Großen und Ganzen mal wieder wie geölt. Aber der Teufel steckt im Detail und nicht alles ist Gold, was glänzt, was besonders auf die Auswahl für den Wettbewerb zutrifft.
Immerhin, mit Wes Andersons „The Grand Budapest Hotel“ hatte der Wettbewerb einen ansehnlichen Auftakt, mit der Einschränkung, dass man Andersons Filmstil und seine liebevoll verschrobenen Filmthemen mögen muss. In seinem neuesten Film bevölkert ein beachtliches Staraufgebot (von Ralph Fines und Adrian Brody über Willem Dafoe und Bill Murray bis zu Tilda Swinton und Edward Norton und vielen anderen mehr – bis hinein in die randständigsten Nebenrollen) einen pittoresken, museumsartigen Hotelkosmos. Schauplatz für ein Welttheater, dessen exzentrisches Personal bisweilen schon scheintot wirkt. Ein Überschuss an morbidem kulturellen Bildungsgut des 20. Jahrhunderts schäumt aus Andersons Fantasie. Geboten wird eine satirisch operettenhafte Hommage an die Zeit zwischen den Weltkriegen im östlichen Mitteleuropa. Absurd dekadent und grotesk, aber ausstattungsfreudig gibt sich die Geschichte um einen legendären Concierge, der mit einer großen Intrige um eine Erbschleicherei zu kämpfen hat, Mord und Totschlag nicht ausgeschlossen. Das Ganze wird mit außerordentlicher Liebe zum Detail und Spielwitz flott inszeniert. Auf der Suche nach einem verschwunden Gemälde und im mörderischen Kampf um ein Familienerbe scheint eine überholte Nostalgie zu einer mit allem Pomp letal verstaubten Welt auf. Seltsam verrückt, aber unterhaltsam.
„The Grand Budapest Hotel“ (Foto: Twentieth Century Fox)
Sah man bei Andersons Film einen merkwürdigen Plot durch einheitlichen Stilwillen konsequent realisiert, so fand man bei George Clooneys „The Monuments Men“ (der außer Konkurrenz im Wettbewerb lief) ein Mischmasch von Versuchen vor, so dass der Film misslingen musste. Erzählt werden soll die auf realen Vorgängen beruhende Geschichte um ein kleines Team von amerikanischen Kunstexperten, Kuratoren und anderen, die 1944 nach der Landung der Alliierten in Europa hinter der Front versuchen, die von den Nazis geraubte Kunst sicherzustellen. Clooney will zum einen einen relevanten, ernstzunehmenden historischen Stoff auf der Folie eines Kriegsfilms entwickeln, zum anderen aber auch noch unterhalten mit den Mitteln der Komödie, des sentimentalen Buddyfilms und haarsträubenden Einfällen, die eher dem US-Popcorn-Kino zuzuordnen sind. Schlichter gesagt, aber auch treffend: Sieben alte Knacker gehen auf Kriegsabenteuer und noch viel mehr, und die Deutschen machen sich in die Hosen. So kann das nicht gut gehen. Zum einen gibt es trotz der literarischen Vorlage, auf die sich der Film beruft, keinen „vernünftigen“ Plot, ja nicht einmal einen packenden, in die Handlung hineinziehenden Anfang. Von Anbeginn an ist man so als Zuschauer befremdet. Es reicht z.B. eben nicht, die Mitglieder des zukünftigen Teams einfach nur so, einfallslos trocken vorzustellen. Was der Zuschauer sieht, ist eine fragmentarische, eher zusammenhanglose Anhäufung von recht unglaubwürdigen Episoden, die von den Darstellern meist ziemlich uninspiriert heruntergespielt werden. Auch die Inszenierung wirkt ideenlos und auf den plumpen Effekt abgestellt. Eine grausam verpoppte Kino-Marschmusik und eingestreutes Pseudo-Sentiment tun ein übriges. Der Film will uns (vielleicht ungewollt) für dumm verkaufen und ist kurz gesagt eine Katastrophe, aber mit knapp 8,5 Millionen Euro deutscher Steuergelder vom DFFF (der Deutscher Filmförderfonds vergibt nicht rückzahlbare Subventionen, wenn die Filme zumindest in großen Teilen in Deutschland produziert werden) gefördert worden, wie acht weitere Filme im Wettbewerb und fünf Filme in anderen Berlinale-Programmteilen (vgl. folgende Liste). Und man wollte ja unbedingt Clooney auf der Berlinale haben, inklusive des gewünschten Schaulaufens auf dem roten Teppich des Berlinale Palastes, und musste ihm deshalb die große Bühne des Wettbewerbs bieten. Da staunt der Fachmann und der Laie, nein, der wundert sich nicht, sondern ist, wenn er (nein: sie) weiblich ist, eben in den Carry Grant unserer Zeit namens Clooney vernarrt, wie sich selbst auf der Pressekonferenz mit ihm beobachten ließ.
„The Monuments Men“ (Foto: Twentieth Century Fox)
Mit ähnlicher Aufmerksamkeit wurde Lars von Triers Nypmphomaniac Volume 1 (long version)“ (im Wettbewerb außer Konkurrenz) erwartet, von dem es fälschlicherweise bei vielen hieß, das sei ein richtiger Pornofilm. Doch weit gefehlt, zwar gibt es in dem 145-minütigen Streifen die eine oder andere pornografische Szene, doch wird der Anteil dieser Szenen wohl unter 20 Prozent der Gesamtlänge liegen. Auch wirkt ein nicht geringer Anteil dieser Aufnahmen bei weitem nicht aufreizend sondern eher mechanisch, besonders in der ersten Hälfte des Films. Bestimmend sind eher die bisweilen sogar humorvollen Dialoge zwischen dem älteren Seligman (Stellan Skarsgard) und der jüngeren Joe (Charlotte Gainsbourg). Seligman findet Joe verletzt in der Nähe seiner Wohnung und nimmt diese fürsorglich mit nach Hause. Was folgt ist die ausführliche Lebensbeichte einer Nymphomanin, die geprägt ist von ihrem besonderen Verhältnis zu ihrem Vater und der schwankenden Liebe zu dem Mann, mit dem sie ihre erste, eher ernüchternde sexuelle Erfahrung macht. Die Gespräche mit Seligman, die die Erinnerungen von Joe diskutieren, sind psychologisch einfühlsam, sanft, brav, philosophisch, manchmal komisch, aber auch trocken. Aus allem erwächst ein sehenswerter filmischer Entwicklungsroman, der dem Vorurteil, das die Werbung für den Film absichtsvoll einsetzt, so gar nicht entspricht.
„Nymphomaniac Volume 1“ (Foto: Christian Geisnæs)
Mit vier unter 23 Filmen (von diesen liefen 20 Filme in der Konkurrenz) war Deutschland im diesjährigen Wettbewerb vertreten. Der beste Film davon war für mich Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“ der in seiner Machart und in seiner Gesamtleistung eine Ausnahmestellung unter den deutschen Historienfilmen einnimmt. Friedrich Schillers Liebes- und Ehegeschichte, eine ménage-a-trois frisch und eindrucksvoll verfilmt.
„Die geliebten Schwestern“ (Foto: Senator Film)
Ebenso herausragend war Dietrich Brüggemanns „Kreuzweg“, der gemeinsam mit seiner Schwester Brüggemann den Silbernen Bären für das beste Drehbuch gewann. Die Leidensgeschichte eines jungen katholischen Mädchens, die durch fundamentalistische Ansichten und Erziehung seiner Mutter in den eigenen Opfertod getrieben wird. Ein Drama in 14 Einstellungen. Dagegen fiel Feo Alsdags „Zwischen Welten“ doch erheblich ab. Deutsches Thesenkino zu einem brisanten Thema – wie verhält sich ein deutscher Offizier in Afghanistan, wie sein einheimische Dolmetscher? -, dem der Film nur bedingt gerecht werden konnte. Als erster deutscher Film im Wettbewerb lief Edward Bergers „Jack“. Der hatte zwar mit Ivo Pietzger einen großartigen 11-jährigen Hauptdarsteller, bot aber mit der Schilderung des Überlebenskampfes eines mit seinem kleiner Bruder von der Mutter vernachlässigten Jungen eher einen sozialkritischen Fernsehfilm für Arte als einen in den Wettbewerb gehörenden Kinofilm. (Näheres zu deutschen Filmen hier und hier.)
Überhaupt fragte man sich bei einigen Filmen (wie beinah alle Jahre wieder), um es einmal salopp auszudrücken, was diese denn im Wettbewerb zu suchen hatten. Ein Paradebeispiel dafür war der argentinische Film „Historia del miedo“ („History of Fear“) von Benjamin Naishtat. Soweit kolportiert, war der Film eigentlich für die Programmschiene „Panorama“ vorgesehen, aber kurz vor Redaktionsschluss des Festivals doch noch in den Wettbewerb eingeladen worden. In relativ fragmentarischen, oft dokumentarisch anmutenden Szenen wird die Paranoia der Wohlhabenden am Rande einer argentinischen Großstadt festgehalten. Der Film will die Zuschauer mitnehmen in die irrationale Angst seiner Figuren. Das funktioniert aber selten, weil die fragmentarische Schilderung der Personen kaum die Möglichkeit einer Identifizierung bietet. Naishtats Debütfilm (die Produktion wurde gefördert vom World Cinema Fond der Berlinale) kommt einem Nischenfilm nahe, der hauptsächlich die Abbildung einer Atmosphäre zum Inhalt hat: Irrationale Bedrohung, die nicht zu fassen ist. Was dem Film fast völlig fehlt, ist eine Geschichte oder z.B. der Versuch einer Genese oder Erklärung der Gründe für die Angst, die die Menschen auf ihrem großzügig bemessenen Grundbesitz befällt. Die Angst scheint irrational und ist es wohl doch nicht, wie es sich in vielen Ländern mit einer ähnlichen Sozialstruktur wie Argentinien bzw. genauer: in Ländern mit einer großen Schere zwischen Arm und Reich zeigen lässt. Der Film will oder kann auf diese Dinge nicht eingehen, verweigert sich aber auch jeder anderen Geschichte. Meist nur Atmosphäre als Filmthema für einen Wettbewerbsfilm der Berlinale ist jedoch kaum hinreichend, da mag der Berlinale-Katalog noch so vielsagend von „fast schon archaischer Angst in grotesken und aberwitzigen Bildtableaus“ schwärmen. Was für große Worte für solch relativ einfache, plane Filmbilder!
Nachdem „Boyhood“ von Richard Linklater am zweiten Festivaldonnerstag, kurz vor Toresschluss, gelaufen war, schien für viele Pressevertreter der Siegerfilm des Wettbewerbs festzustehen. Das über 12 Jahre laufende Spielfilmprojekt folgt dem Heranwachsen des Jungen Mason von seinen schulischen Anfängen bis zum Eintritt ins College. Dabei hat es Linklater geschafft, für die 39 Drehtage, die sich über die gesamte Projektzeit erstreckten, immer wieder dieselben Darsteller einzusetzen. Schon das macht den Film so faszinierend und einzigartig. Die Darsteller altern während der Drehzeit, die sich über so viele Jahre erstreckt. Ein utopisch anmutender Filmtraum wird mit „Boyhood“ wahr: eine „reale“ Langzeitbeobachtung im und mit dem Spielfilm.
„Boyhood“ (Foto: Richard Linklater)
Den Goldenen Bären erhielt dann doch völlig überraschend der chinesische Kriminalfilm „Black Coal, Thin Ice“ von Diao Yinan. Ein Film Noir, den dann viele nach der Preisverleihung lobend auch als Parabel auf die chinesische Gesellschaft interpretieren wollten, der, obwohl gekonnt gemacht und packend erzählt, zuvor im Festivalbetrieb nur mäßige Beachtung gefunden hatte und den kaum jemand für einen Bären „auf der Reihe“ hatte.
Trotz Linklaters „Boyhood“ schwächelte der Wettbewerb besonders in der zweiten Hälfte. Nicht nur deshalb stellt sich für die Berlinale nach all dem Festivaltrubel die Frage: Will sie auch zukünftig, wie in den vergangenen Jahren, ihr Heil im stetigen Wachstum (noch mehr Reihen, noch mehr Filme, noch mehr Vorstellungen) suchen oder wäre nicht doch ein wenig mehr Konzentration angesagt, z.B. auf die Auswahl zum Wettbewerb? So hätte z.B. eigentlich der großartige, für 10 Oscars nominierte „American Hustle“ von David O. Russel eher in den Wettbewerb gehört als ins Berlinale Special. Russel hat eine sehr intelligente, wenn auch etwas zu lange (138 Min.) Komödie um Trickbetrüger, die vom FBI instrumentalisiert werden und dieses zu guter letzt doch hereinlegen, geschaffen. Großartige Darsteller, die im Laufe der verzwickten Geschichte zu Höchstform auflaufen, tolle Musik, die hilft, die 70er Jahre wieder auferstehen zu lassen, und eine im zweiten Teil sich rasant entwickelnde Dramatik erinnern an Scorseses Meisterstücke „Goodfellas“ und „Casino“. Und DeNiros kleine Rolle als arabisch sprechender Alt-Mafioso lässt seine unsäglichen Mafia-Komödien der letzten Jahre vergessen. Einige noch „unfertige Talentproben“ im Wettbewerb (siehe „History of Fear“) hätten hingegen eher zum Programm des Panorama oder ins Forum gepasst. Andere deutsche Produktionen, wie z.B. der neue Film von Fatih Akin „schielen“ eher nach Cannes als nach Berlin. Dort spielt die Musik, dort wird eher die internationale Cinematografie präsentiert als in Berlin. Will sich Berlin in Zukunft nur noch mehr damit trösten, das publikumsfreundlichste und größte A-Festival der Welt zu sein? Reicht das? (Helmut Schulzeck)
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