17. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide 2013
Reisen in die Erinnerung
Eindrücke vom Kurzfilmabend „Kurz & knackig“
Film (wie auch Fotografie) ist Erinnerungskunst, eine Konstruktion, eine Reise, die aus ihrer Medialität selbst etwas „Ehemaliges“ in die Aktualität der Leinwand zurückholt, um ihm Gegenwart wiederzugeben. Film als Dokument, (Auf-) Bewahrung, ist somit auch immer eine Kunst gegen das Vergessen. Große Worte, film- wie erkenntnistheoretisch durchaus anzweifelbar, aber doch brauchbar, um in einer Schau der Kurzfilme bei der diesjährigen Augenweide den sie zusammenspinnenden „roten Faden“ zu entdecken – oder vielleicht auch nur konstruiert zu weben …
Zu Niels Freverts Song „Blinken am Horizont“ fiel Christian Mertens spontan eine Filmidee ein (D 2012, 4’47’’): Ein Fischer hat vor Jahren seine Frau verloren, nun fährt er täglich hinaus um zu fischen, aber auch zu vergessen. Da sieht er am Horizont eine Boje, so einsam wie er im Meer der Zeit dümpelnd. Und wir merken recht bald, dass er sie bewusst immer wieder ansteuert. Denn an der Boje hängt ein Hochzeitsbild von ihm und seiner Frau, das, da verblichen, er austauscht gegen ein neues, um es auf das Meer der (Ge-) Zeiten als Zeichen und Wegmarke zu setzen. Mertens hat diese schon im Song-Text angelegte Sehnsucht nach Wiederkehr des längst Vergangenen, nach Erinnern also, trefflich in Filmbilder und eine kleine Geschichte übersetzt. Manches erinnert dabei an die Ästhetik von Werbespots für ein gewöhnlich maritim beworbenes Bier, gewinnt aber in einfallsreicher Kameraführung (Till Vielrose) und präzise auf die dramaturgischen Zeitverläufe des Songs geschnitten (Kai Minierski) eine eigenständige Dimension.
Aus Kassel reiste der an der dortigen Kunsthochschule studierende Florian Maubach über den Fährhafen Kiel ins litauische Klaipeda. Auf der Reise entstanden Strichskizzen, die er in „Iki – Bis bald“ (D 2011/12, 1’20’’) trickfilmisch buchstäblich auf den Punkt bringt. Nämlich den einer miniaturisierten Weltkugel, aus der die Szenen solcher Reise wie Kontinente des pointierten Erinnerns oder auch „Popups“ einer „Mindmap“ herausploppen. Dem kurzen Filmchen verleiht das eine ungewöhnliche Dynamik wie auch etwas Vorübergehend-/Transitorisches. Snapshots wie animierte Postkarten eines Tripps entlang der Ostsee.
Wer aus der Erinnerung seiner selbst fällt, stürzt auch aus dem Leben – oder vice versa: Klaus Keller weiß nicht mehr genau, woher seine Misere eigentlich stammt. Er pflegte seine Mutter liebevoll bis zu deren Tod, danach sei alles „irgendwie bergab gegangen“. Jetzt bezieht er Hartz IV, sprich: hängt „Angeleint“ (D 2012, Anne Lengnink und Hannes Schüler) wie ein Hund am Tropf unsicher gewordener sozialer Sicherungssysteme. Dabei verhält er sich nicht nach Wunsch der Behörden, denn er arbeitet nebenbei freiwillig, indem er als guter Geist des Wochenmarkts aushilft oder für einen Rentnerverein Altpapier sammelt. Solche Form der (gemeinnützigen) Arbeit gilt nichts, also sieht sich Keller immer wieder Sanktionsdrohung des Jobcenters ausgesetzt. Vielleicht, weil das sich nicht mehr daran erinnert, dass Arbeit, auch die nicht erwerbsfähige, einen Menschen in die Gesellschaft besser eingliedert als alle „Maßnahmen“, die sich Bürokraten so ausdenken und an denen Keller regelmäßig scheitert. „Ich hab’ mich eher um andere gekümmert als um mich selbst“, resümmiert Keller am Ende des Films, in dem Anne Lengnink und Hannes Schüler den trotz aller Unbill recht resoluten eigentlich Lebenskünstler begleiten. Ein Flashlight auf die gefährdete Existenz in einem kapitalistischen System, das den Menschen mit der Arbeit auch ihre Erinnerung an sich und die eigenen Interessen nimmt.
An ein weiteres schon lange gärendes gesellschaftliches Problem, die Fremdenfeindlichkeit, will Sarang Aria in „Mandarine“ (D 2012, 4’53’’) erinnern. Nicht dass es genug Filme über dieses wichtige Thema geben könnte, dieser wirkt in seiner Umsetzung recht hölzern, nicht nur im Plot, auch in den Dialogen. Ein „Ausländer“ wird auf dem Bahnhof von einem „Inländer“ übel angepöbelt. Ersterer gibt Letzterem als Versöhnungsgeste eine Mandarine. Dennoch klaut jener diesem die Reisetasche, ein wilde (aber nicht wild gefilmte) Verfolgungsjagd setzt ein, an deren Ende der Angreifer auf dem Boden liegt. Die an Frieden erinnernde Frucht entgleitet seiner ermattenden Hand, fällt tief und zerplatzt wie die Träume von Mitmenschlichkeit am Grunde des Treppenhauses, in das die Verfolgungsjagd führte. Symbol? Wenn ja, dann nicht sonderlich fruchtbar. Hübsche Filmidee, aber misslungen.
Heilsamer bei solcher Erkältung der Erinnerung wäre womöglich ein guter Schluck Malventees gewesen. Der antibiotischen (wie auch antiidiotischen) Potenz der Heilpflanze „Malve“ geht Til Daus, Kommunikationsdesignstudent an der FH Wismar, in seinem typografischen Animationsfilm (D 2012, 3’10’’) nach. Wikipedia-Text goes Movie, farbenfroh und filmbildbuchstäblich um die Ecke gedacht. Schnöder Untertitel war gestern, hier erinnert sich Text an seine bewegtbildnerischen Fähigkeiten.
Steffi würde zu solchem sicherlich den Facebook-Daumen hochhalten, wie sie es im ebenfalls sehr bewegten „Steffi gefällt das“ (D 2012, 4’35’’, Philipp Scholz) jeden dritten Szenen-Post tut. Paul rennt durch sein Leben, das schon längst die „Likes“ im Social Web diktieren. Facebook rulez und raunt uns unser Erinnern zu – oder wir es ihm? Was passiert, wenn Real Life und sein Erinnerungshintergrund auf schnell vergängliche Web-2.0-Gegenwart treffen? Was wird aus unserer Geschichte, wenn sie zur Facebook-Chronik gerinnt? Wichtige medientheoretische Fragen, die Philipp Scholz in ein auch kamera-mäßig ständig auf dem Sprung (oder auch „Link“) befindliches Road-Movie übersetzt. Wohl um die 60 DarstellerInnen huschen dabei durchs vergängliche Bewegtbild und an uns Zuschauern vorbei. Eine treffende Parabel auf schnelllebige Netzerinnerungs- und -vergessenszeiten, das gleichwohl auch als Werbe-Clip für Facebook funktionieren könnte. Denn dass die neuen Medien auch Kritisches über sie sofort in die „virale“ Erinnerungs(be-)werbung für sich und seine Anhänger einbauen, zeigt nicht zuletzt dieser Film als (unfreiwilliger) Advocatus Diaboli.
Und wie könnte Erinnerung Mission sein? Vielleicht, wenn unser Bewusstsein nur aus Gegenwart bestünde wie bei dem niedlichen Roboter in „The Mission“ (D 2012, 1’31’’, Lina Huxhold und Anne Pollmann). Zukunft lässt sich nur aus dem Erinnerten erahnen, und so rennt der hurtige Geselle, dem Erinnern nicht programmiert wurde, der aber dennoch Ausgang aus seinem (vermeintlichen) Gefängnis sucht und nach allerlei scheiternden Versuchen auch findet, just in sein Verderben. Metapher? Eher nicht, „nur“ eine nette Idee für eine 3D-Animation, welche die beiden Filmemacherinnen als Fingerübung im Multimedia-Design-Studiengang der FH Kiel realisierten.
Wohin geht – oder auch wankt – also das Kino? Aus dem, was es mal war und woran es sich erinnert? Kai Zimmers „L“ (D 2010, 4’) kontrastiert den Schauspieler Peter Lorre in Takes aus Fritz Langs „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ (1931) und Lorres einziger Regiearbeit „Der Verlorene“ 20 Jahre später. Nicht nur 20 Jahre liegen zwischen diesen Filmen, aus denen Zimmer „samplet“, auch ein „Tausendjähriges Reich“, das Europa und seine Filmkultur verheerte und den jüdischen Lorre nicht nur aus Deutschland vertrieb, sondern auch auf die ewige Nebenrolle des bösen Psychopathen festlegte … Muss man darob nicht rufen: „Kill Kino Kill Kill“? Die Kieler Filmgruppe Chaos (D 2012, 3’) tut es wie üblich radikal. In mehrfach überblendetem „1 Film mehrfach durch die Kamera laufen lassen, handentwickelt, kein Schnitt (!), ein paar Übermalungen mit dem Edding“ zertrümmert sie Projektoren, während dazu der Soundtrack aus „Faster, Pussycat! Kill! Kill!“ (Russ Meyer, 1966) orgasmisch-blut-und-brust-brünstige Totems abfeiert. „Kodak ist pleite!“, „rülpst“ Chaos-Film-Papst Karsten „Kuddel“ Weber im Filmgespräch – der „chemische“, analoge Film ist tot. Deshalb muss ihm ein Grabstein gesetzt werden, an dem er sich wie einst Hendrix seine Gitarren zu Tode wetzt und wirft. Nicht von Ungefähr hat dieses Requiem auf den analogen Film genau die 3-Minutenlänge eines mit der Erinnerung seiner selbst abrechnenden Rock-Songs. Hard-Rock in Bildern, die im Grab ihres Zelluloids liegen, aber wie Untote in unserer Erinnerung immer wieder wiederauferstehen mögen – und müssen.
Erinnern ist eine Konstruktion. Wie auch das Vergessen. Luise Donschen (re-) konstruiert beides in ihrem Familienporträt „Macht, dass mir inne wird, was ich durch euch verloren habe!“ (D 2012, 26’). Der Titel ist bereits poetisches Programm. Erinnern als im ursprünglichen Wortsinne Innewerden. Allein, ihre Familie, der sie hier nachspürt, hat sich verflüchtigt wie ihre Erinnerung. Fragmente bleiben, aus denen Donschen das Patchwork neu zusammensetzt. Da ist die Großmutter, die aus den Familienfotoalben fast alle Bilder tilgte. Donschen zeigt in quälender Langsamkeit der Nicht-Bilder die leer geräumten Fotoalben, wo Fotoecken für die Leerstellen stehen. Warum wollte die Großmutter vergessen? Dagegen steht die (in filmischen Super-8-Zitaten eingebrachte) dokumentarische Sammelwut des Vaters, einziger Link zu ihrer Vergangenheit für die Filmemacherin. Da ist der Großvater, der, von Donschens Kamera begleitet, ins heute polnische Pommern reist, um sich für sie zu erinnern. Über allem liegt ein Geheimnis verdrängter Erinnerung, die sich vergessen möchte. Warum? Dagegen die im Filmtitel postulierte Forderung der Filmemacherin. Der gelingt eine intime Studie weniger über die Familiengeschichte als über das in Deutschland schwierige Verhältnis von Erinnern- und Vergessenwollen. Beides, Erinnerung wie Vergessen, sei eine Konstruktion, sagt Donschen im Filmgespräch und legt damit den filmischen Finger auf gleich viele Wunden, denen sie feinfühlig die Pflaster abreißt. Ein bedrückend eindrücklicher Film, der Schule machen müsste – nicht nur auf der Augenweide. (jm)