63. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2013
Tokyo Story Revisited
„Tokyo Kazoku“ (Tokyo Family, Yoji Yamada, JAP 2012)
„Tokyo Monogatori“ (Tokyo Story / Reise nach Tokyo, JAP 1953) gilt als einer der besten Filme aller Zeiten. Erst 2012 führte der Film die Bestenliste einer Umfrage des „BFI Sight&Sound-Magazins“ unter 360 Filmemachern an. Im Westen sicher weniger bekannt als Akira Kurosawa, ist sein Regisseur Yasujiro Ozu einer der Säulenheiligen des Weltkinos, geschätzt von vielen Filmkritikern und Regisseuren als der essentielle japanische Filmemacher der goldenen Ära des japanischen Films der 50er Jahre. Von 1927 bis 1936 produzierte er 35 Stummfilme, mitunter bis zu sieben in einem Jahr. Mit Einführung des Tonfilms 1937 reduzierte er diese Schlagzahl, dafür entstanden nach dem Krieg seine bekannten und gepriesenen Meisterwerke, darunter „Banshun“ (Late Spring, JAP 1949), der erste Film mit seiner Muse Setsuko Hara, und „Bakushu“ (Early Summer, JAP 1951) mit einem weiteren Ozu-Stammschauspieler, Chishu Ryu. Die Filme dieser Periode kreisen fast alle eng um die traditionelle Rollenverteilung in der japanische Familie und deren Veränderungen im Nachkriegs-Japan auf dem Weg in eine moderne Gesellschaft. Ozu hat früh seine Handschrift entwickelt und in seinem Spätwerk zur Perfektion gebracht. Er benutzt praktisch nur statische Einstellungen, meist ist die Kamera knapp über dem Fußboden positioniert, auf Augenhöhe mit den im Familienrund sitzenden Protagonisten. Seine Kadrierung ist oft symmetrisch, auf jeden Fall aber äußerst sorgfältig arrangiert, und das Set stets in der räumliche Tiefe gestaffelt. Ozu verzichtet meist auf die typische Schnitt-Gegenschnitt-Auflösung eines Dialogs zugunsten eines theatergleichen Panels, das alle Schauspieler erfasst und in welchem er Dialoge, Auf- und Abgänge inszeniert, ohne abzulenken. Wie Kapitelteiler setzt Ozu gerne Einstellungen von im Wind wehender Wäsche, einfachen Wohnhäusern, Arbeitsgebäuden oder vorbeifahrenden Zügen ein, um die dramaturgischen Akte seiner Erzählung voneinander zu trennen oder auf einen Zeit- oder Ortswechsels hinzuweisen.
„Tokyo Monogatori“ erzählt die Geschichte des älteren Ehepaars Shukichi and Tomi (Chishu Ryu), das mit seiner jüngsten, unverheirateten Tochter Kyoko im Südwesten Japans lebt und eines Tages aufbricht, um ihre anderen Kinder in Tokyo zu besuchen. Der älteste Sohn Koichi arbeitet als Arzt, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Die Tochter Shige ist kinderlos verheiratet und betreibt einen Friseursalon. Beide Familien haben keine Zeit, um sich wirklich um ihre Besucher zu kümmern, nur Noriko (Setsuko Hara), ihre Schwiegertochter und Frau ihres im Krieg gefallenen Sohnes, führt ihre Schwiegereltern auf Sightseeing durch Tokyo. Koichi und Shige schicken ihre Eltern für ein Wochenende in ein Urlaubshotel an der Küste, um sie los zu werden, doch der Lärm der anderen Gäste lässt die beiden vorzeitig abreisen und zurückkehren. Mangels Schlafquartieren bei den eigenen Kindern wird Mutter Shukichi zur Schwiegertochter ausquartiert, und Vater Tomi geht auf Sauftour mit einem alten Kumpel. Nach diesem Desaster treten die beiden die Heimreise an, auf der die Mutter schwer erkrankt. Wenig später findet sich die ganzen Familie am Sterbebett der Mutter ein, doch es ist zu spät, um Abschied zu nehmen. Ohne noch einmal aus dem Koma aufzuwachen, stirbt Shukichi. Schnell sind ihre Kinder wieder auf dem Weg nach Tokyo, nur Noriko bleibt. Tomi lobt sie für ihre Freundlichkeit und Treue, er schenkt ihr als Andenken an die Verstorbene deren Uhr. Unter Tränen gesteht Noriko ihre Einsamkeit. Auch sie reist zurück nach Tokyo. Tomi und seine jüngste Tochter Kyoko bleiben alleine zurück.
Setsuko Hara und Chyu Rishu in Yasujiro Ozus Klassiker „Tokyo Monogatori“
Auf der Berlinale 2013 konnte man nun eine neu digital restaurierte Fassung des Klassikers bewundern. Shochiku-Manager Kaz Moriguchi erklärte stolz dem Publikum die aufwendigen Schritte der 4K-Restauration von „Tokyo Monogatori“, die als Ausgangspunkt nicht das verlorene Original-Negativ, sondern nur ein ebenfalls teilweise zersetztes Inter-Negativ zur Verfügung hatte. Doch das Ergebnis ist erstaunlich, der Detailreichtum im Bild ist deutlich größer, und die Grauschattierungen sind erheblich differenzierter als in bisherigen digitalen Abtastungen, wie z.B. der amerikanischen Criterion Collection. Der Aufwand, der rechtzeitig zum 110. Geburtstag Ozus getrieben wurde, hat sich gelohnt.
Knapp 60 Jahre nach „Tokyo Monogatori“ verfilmt Bären-Gewinner und Ozu-Assistent Yoji Yamada („Twilight Samurai“, JAP 2002) den Stoff neu. Sein Film „Tokyo Kazoku“ kommt 2013 in die Kinos, auf der Berlinale konnte man die internationale Premiere des Films erleben. Yamada ist den Japanern insbesondere durch seine „Otoko wa Tsurai no“-Serie (Es ist schwer, ein Mann zu sein aka Tora-san) bekannt, die erstaunliche 48 Filme lang von 1969 bis 1997 in japanischen Kinos lief und einen stets unglücklich verliebten Vagabunden zum Helden hat. Auf der Berlinale war Yoji Yamada zuletzt 2010 mit „Otouto“ dem Abschlussfilm im Wettbewerb zu sehen. Die Familien-Dramödie „Otouto“ gemahnte bereits an Ozu und dessen Spätwerk. Nun verneigt sich Yamada ganz explizit vor seinem Lehrmeister.
Blick nach vorn auch in Yoji Yamadas „Tokyo Kazoku“ mit Satoshi Tsumabuki und Kazuko Yoshiyuki
Die ersten Einstellungen von „Tokyo Kazoku“ gleichen denen von „Tokyo Monogatori“: Landschaft, ein vorbeifahrender Zug, Wohnhäuser, die trocknende Wäsche auf der Leine, Ozus Sinnbild für das familiäre Leben. Doch die ersten Szenen zeigen, dass Yamada Ozus Drama um unvermeidliche Familienbande nicht sklavisch neu bebildert, sondern vorsichtig und respektvoll aktualisiert hat. Die Eltern kommen an der falschen Zugstation in Tokyo an, per Handy wird kommuniziert und umgeplant, Shukichi und Tomi fahren mit dem Taxi. Der Taxifahrer verwehrt sich gegen Shukichis Direktionsversuche mit einem entwaffnenden „Ich habe GPS“. Man ist also im Hier und Jetzt, Yamada signalisiert Gegenwartsnähe. Das macht Änderungen in der Figurenkonstellationen notwendig: Shukichi und Tomi haben nicht fünf Kinder wie in „Tokyo Monogatori“, sondern drei. Ihr Sohn ist nicht im Krieg gefallen und hat eine Witwe als Schwiegertochter hinterlassen. Die Figur der Noriko wird als bislang geheim gehaltene Freundin des jüngsten Sohnes Shoji eingeführt. Shoji ist als einziges der drei Kinder nicht etabliert, hat weder Frau, Kinder noch eine feste Anstellung. Er arbeitet als selbstständiger Bühnenbildner, was Vater Tomi nicht als valide berufliche Laufbahn anerkennen will. Mutter Shukichi findet aber schnell Gefallen an Noriko, die den unsteten Shoji erdet und von ähnlich anrührender Bescheidenheit wie die von Setsuko Hara portraitierte Noriko ist. Noriko und Shoji sind es in Yamadas Version, die als letzte dem Vater Beistand nach dem Tod der Mutter leisten, während die älteren Geschwister schon wieder nach Tokyo abgereist sind.
Yamada inszeniert seine Schauspieler in moderner Natürlichkeit, erlaubt sich gegenüber dem Original auch eine scherzhafte Note und Verweise auf das aktuelle Zeitgeschehen wie die Flut- und Reaktorkatastrophe von Fukushima. Es ist aber erstaunlich, wie zeitlos das Skript von Ozu funktioniert und die Dynamik innerhalb einer Familie beschreibt. Der Generationenkonflikt, die Sorge der Eltern und ihre Anforderungen an die Kinder auf der einen Seite, das Loslösen der Kinder, die ihren eigenen Weg gehen wollen, auf der anderen. Ozu hat ohne zu psychologisieren in „Tokyo Monogatori“ die unvermeidlichen Familienbande analysiert, durchaus in Frage gestellt aber gleichzeitig idealisiert. Yamada respektiert nicht nur die Erzählung des Meisters, sondern auch seine Botschaft. Seine Familie kann man sich nicht aussuchen, aber ohne sie wären wir haltlos. (dakro)
- „Tokyo Monogatori“ (Tokyo Story / Reise nach Tokyo), JAP 1953, 136 Min., B/W, 35 mm, Regie: Yasujiro Ozu, Buch: Kogo Noda, Yasujiro Ozu, Darsteller: Chishu Ryu, Setsuko Hara, Chieko Higashiyama, So Yamamura u.a.
- „Tokyo Kazoku“ (Tokyo Family), JAP 2013, 146 Min., 35 mm, Regie: Yoji Yamada, Buch: Yoji Yamada, Emiko Hiramatsu, Darsteller: Yu Aoi, Satoshi Tsumabuki, Yui Natsukawa