63. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2013
Die Front in der Heimat
Keisuke-Kinoshita-Retrospektive
Mit der Kapitulation am Ende des Zweiten Weltkriegs endete für Japan die Ära des Tenno und eines unerschütterlichen Glaubens an eine fest gefügte göttliche Ordnung der Dinge. Der Umbruch in eine moderne Gesellschaft war begleitet von existenzieller Unsicherheit und moralischer Orientierungslosigkeit. Die japanischen Filmstudios haben die Kriegsjahre einigermaßen überstanden. Nach dem Krieg hatte Japan immer noch eine funktionierende Filmindustrie, und etliche junge und gut ausgebildete Talente standen in den Startlöchern. Kinoshita Keisuke zählt zu den bekanntesten und ist vielleicht der erfolgreichste Regisseur der goldenen Ära des Japanischen Kinos von den späten 40ern bis zu den frühen 60ern. Zeitgenosse von Yasujiro Ozu und Kenji Mizoguchi, gehörte Kinoshita zur Generation von Akira Kurosawa und Mikio Naruse, die – anders als Kinoshita – auch im Westen bekannt wurden.
1933 trat der ausgebildete Fotograf in die Shochiku-Studios ein, arbeitete u.a. als Regieassistent für Yazujiro Shimazu. Zehn Jahre später durfte er sein Debut als Regisseur drehen. Bis zu seinem Tod 1998 inszenierte Kinoshita 49 Filme, die meisten kommerziell erfolgreich.
Kommerzieller Erfolg steht bei Keisuke Kinoshitas Arbeiten aber nicht im Gegensatz zu ihrer filmischen Qualität. Kinoshita war ein Wanderer zwischen den Genres, Melodramen, Komödien und gelegentlich ein historischer Stoff gehörten zu seinem Repertoire. Stets wichtig war ihm aber der Bezug zur Gegenwart und die Relevanz für den Kinobesucher. Shochiku war ohnehin das Studio, welches sich auf „Shomingeki“ spezialisierte, Alltagsgeschichten um die Sorgen und Freuden von einfachen Menschen, die ideale Heimat also für Kinoshita. Sein bekanntester Film, der heute noch beliebte „Twenty-Four Eyes“ (JAP 1954), erzählt die Geschichte einer Lehrerin in der Ära des japanischen Ultra-Nationalismus von 1928 bis 1946. Konsequent nimmt der Film die Perspektive der Lehrerin ein, die hilflos mitansehen muss, wie ihre Schüler auf den Krieg vorbereitet werden und aus diesem nicht mehr oder gebrochen zurückkehren. „Twenty-Four Eyes“ rührte die Japaner zu Tränen. Kinoshita erreichte seine kriegsgeschockten Landsleute über das Heimat-Melodram.
Stilistisch vielseitig: Keisuke Kinoshita
Die fünf Filme umfassende Hommage an Keisuke Kinoshita im Forum der Berlinale 2013 lassen nicht nur die stilistische Vielseitigkeit Kinoshitas erkennen, sondern auch sein zentrales Thema und Setting: Die zerstörerischen Auswirkungen und Folgen des Krieges auf die Menschen in der Heimat. Oft sind Frauen zentrale Protagonistinnen, Mütter, Schwestern, Geliebte, Ehefrauen. Die weibliche Erzählperspektive hat sicher zur Popularität Kinoshitas bei einem breiten Publikum beigetragen.
„Kanko no machi“ (Jubilation Street, JAP 1944) entstand noch während des Krieges als Propagandafilm im Auftrag der Regierung. Kinoshita erzeugt mit der Geschichte der Bewohner einer Straße in Tokyo, die aus Kriegsgründen umgesiedelt werden sollen, aber keinen Hurra-Patriotismus. Er zeichnet das Bild einer organischen Gemeinschaft, die durch den Krieg zerrissen wird und sich in Resignation ergibt. Erstaunlich, dass der Film in die Kinos kam, und Zeugnis der frühen moralischen Reife des Regisseurs.
Propagandafilm mit kritischen Untertönen: „Jubilation Street“ (1944)
Filmisch deutlich experimentierfreudiger kommt „Onna“ (Woman, JAP 1948) daher, ein knapp 70-minütiger, sehr eigenwilliger Thriller um eine junge Frau und ihren kriegsversehrten Liebhaber, der sich als Bankräuber und möglicher Mörder herausstellt. Kinoshita setzt den inneren Konflikt der jungen Frau zwischen Loyalität zu ihrem Mann und selbstbestimmten Leben filmisch mit furiosen Schnitten und ungewöhnlichen Kamerawinkeln um. Aus einer Flucht vor der Polizei wird ihre Flucht vor einem Mann, der sie in die traditionelle Frauenrolle zwängen will, auch wenn er moralisch längst keinen Anspruch auf sie mehr hegen kann. Die immer verzweifelter werdenden Ablösungsversuche enden schließlich in einer finalen und fatalen Konfrontation.
Experimenteller Thriller und Selbstbehauptungsdrama: „Woman“ (1948)
Gänzlich andere Töne schlägt Keisuke Kinoshita in „Konyaku yubiwa“ (Engagement Ring, JAP 1950) an, wenn er die Beinahe-Affäre der verheirateten Noriko und des jungen Arztes, der ihren an das Bett gefesselten, kriegsgeschädigten Mann behandelt, erzählt. Das Melodram entfaltet sich in ruhigen Bildern und langen Einstellungen. Noriko hat nach den langen Jahren der aufopferungsvollen Pflege ihre Lebensfreude verloren. Die Begegnung mit dem jungen Mann lässt sie aufblühen, die beiden gestehen sich ihre Liebe. Letztendlich entscheidet sich Noriko, bei ihrem Mann zu bleiben. Wiederum wählt Kinoshita eine konsequente, weibliche Erzählperspektive und vermeidet moralischer Untertöne. Wenn sich Norika für ihren Mann und gegen die verbotenen Liebe entscheidet, dann aus freien Stücken und nicht aus gesellschaftlichen Zwängen heraus.
Gefühlvolles Melodram: „Engagement Ring“ (1950)
Seinem Haupt-Thema der fatalen Auswirkungen des Krieges auf die zivile Gesellschaft widmet sich Kinoshita auch in der an das Western-Genre gemahnenden Familenfehde-Saga „Shito no densetsu“ (A Legend or was it?, JAP 1963). Vor der Ehrfurcht gebietenden Berglandschaft Hokkaidos kommt es zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen Dorfbewohnern und einer kriegsbedingt zugezogenen Familie, als deren ältester Tochter die Heirat mit dem Sohn des Dorfvorstehers ablehnt, weil der in seiner Zeit als Offizier in China Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen hat. Die Verzweiflung und Wut der Dorfbewohner über die bevorstehende japanische Kapitulation und den Verlust vieler junger Männer des Dorfes richten sich auf die Ortsfremden und entladen sich in einer Spirale der Gewalt. 20 Jahre nach Kriegsende sind die Wunden noch nicht verheilt, und Kinoshita bringt das nationale Drama als Heimatfilm-Epos auf die Leinwand.
Der Krieg in der Heimat: „A Legend Or Was It?“ (1963)
Sein filmisches Schaffen fasste Kinoshita einmal so zusammen: „In der Abfolge ihres Entstehens betrachtet, ergeben meine Filme ein Bild der Geschichte der Nachkriegszeit in Japan, des Wandels, dem das Land unterlag. Außerhalb einer Konfrontation mit der Gegenwart, im Abseits der Aktualität zu arbeiten, erscheint mir absurd. Die Probleme der Gegenwart sind in meinen Augen essentiell. Ich mache zeitgenössische Filme für das große Publikum.“ Mit welcher Konsequenz und stilistischen Vielseitigkeit Keisuke Kinoshita seinen Anspruch an ein relevantes, aber zugleich zugängliches und modernes Kino umgesetzt hat, haben die mit Unterstüzung der Shochiku Co. Ltd., Tokyo Metropolitan Government, Arts Council Tokyo and Tokyo Culture Creation Project sowie in Zusammenarbeit mit dem Tokyo FilmEx-Festival ausgwählten Filme eindrücklich belegt. (dakro)
- „Kanko no machi“ (Jubilation Street), Japan 1944, 73 Min., Regie: Keisuke Kinoshita, mit J Ken Uehara, Mitsuko, Mitsuko Mito, Eijirou Touno, Chiyo Nobu, Makoto Nobori, Mitsuko Lida
- „Onna“ (Woman), Japan 1948, 67 Min., Regie: Keisuke Kinoshita, mit Mitsuko Mito, Eitaro Ozawa
- „Konyaku yubiwa“ (Engagement Ring), Japan 1950, 96 Min., Regie: Keisuke Kinoshita, mit Kinuyo Tanaka, Toshiro Mifune, Jukichi Uno
- „Shito no densetsu“ (A Legend Or Was It?), Japan 1963, 83 Min., Regie: Keisuke Kinoshita, mit Shima Iwashita, Mariko Kaga, Go Kato, Kinuyo Tanaka, Yoshi Kato, Bunta Sugawara