63. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2013
Steiniger Weg zur Akzeptanz
„Out in Ost-Berlin – Lesben und Schwule in der DDR“ (Jochen Hick, Andreas Strohfeldt, D 2013)
Bereits seit der Staatsgründung der DDR war der in der Weimarer Republik angewandte „Homosexuellen“-Paragraph 175 in der Verfassung entschärft worden, 1968 wurde der Paragraph 175 in der DDR abgeschafft. Allerdings wurde er durch den neuen Paragraphen 151 ersetzt, der sexuelle Kontakte Homosexueller mit Minderjährigen unter Strafe stellte. 1988 wurde auch dieser Paragraph gestrichen und damit waren in der DDR Homosexuelle und Heterosexuelle de jure gleichgestellt. In der BRD wurde der Paragraph 175 erst 1994 abgeschafft, bis 1969 galt sogar die von den Nationalsozialisten verschärfte Fassung der Strafverfolgung. Während in der DDR nur 3.000 Urteile gefällt wurden, waren es in der BRD im selben Zeitraum 50.000.
Tatsächlich war aber das Verhältnis der DDR zu ihren homosexuellen Mitbürgern keineswegs einfach, nachsichtig oder gar tolerant, wie diese historischen und statistischen Daten vielleicht nahe legen. „Out in Ost-Berlin – Lesben und Schwule in der DDR“ dokumentiert die Situation von homosexuellen Männern und Frauen im anderen deutschen Staat seit den 50er Jahren, das Aufkommen von Schwulenszenen, Schwulenbewegungen und die Reaktion staatlicherer Institutionen. Die zweite Zusammenarbeit von Jochen Hick („The Good American„, D 2009) und Andreas Strohfeldt nach dem Berlinale-Beitrag „East/West – Sex & Politics“ (D 2008) erzählt anhand von einem guten Dutzend Biografien und teilweise bisher unveröffentlichtem historischem Filmmaterial den langen Weg aus Isolation und Verleugnung über Bespitzelung und Ausgrenzung bis zum Protest oder der Ausreise.
Natürlich hatten auch Homosexuelle in der DDR zunächst keine „Szene“, Schwule und Lesben hatten in den 50er und 60er Jahren praktisch keine Chance, durch Aufklärung oder frei verfügbare Informationen ihre sexuellen Impulse zu deuten. Angst- und Schuldgefühle sind nicht selten die Folge. Ein „glückliches Coming Out“ ist Zufallssache, Homosexualität wird oft denunziert und führte zum Abbruch des Studiums oder dem Ausschluss aus der Partei. Das erste, erschossene Maueropfer Günther Liftin wurde 1961 in der Partei-gesteuerten Tageszeitung das „Neue Deutschland“ gar als homosexueller Krimineller diffamiert. Sein tatsächlich schwuler Bruder Jürgen kämpfte jahrelang für dessen öffentliche Rehabilitierung, schließlich mit Erfolg.
Eine eigene Szene musste zunächst auf das Private beschränkt bleiben: „Out in Ost-Berlin“ (Foto: Berlinale)
Hicks und Strohfeldts Protagonisten entwickeln sehr unterschiedliche Strategien, mit ihrem Schwulsein in der DDR zu leben: Peter, Jahrgang 1942, wollte stets nur ein „ganz normales Leben führen“, mit seinem heutigen Freund blieb er über 48 Jahre zusammen. Gemeinsam organisierten im Geheimen aufwendige private Partys inklusive Kabarett-Programm. Marina brach nach ihrem Coming Out ihe Stdium an der HUB ab, engagierte sich gegen die drohende Wehrpflicht für Frauen in der NVA und gründete schließlich Anfang der 80er Jahre den Arbeitskreis „Homosexuelle Selbsthilfe – Lesben in der Kirche“ mit. Zur gleichen Zeit gründete Christian den Arbeitskreis „Schwule in der Kirche“, auch er hatte sein Studium der Theologie abbrechen müssen. Michael besetzte Anfang der 80er Jahremit Freunden Wohnungen im Prenzlauer Berg und organisierte legendäre Partys und Performances. 1984 verlässt er die DDR. Der Theologiestudent Eddy setzt sich offen für die Ordination schwuler Priester ein, das Priesteramt wurde ihm deshalb verwehrt. Sein Engagement für die Gründung homosexueller Arbeitskreise in zahlreichen Kleinstädten der DDR bescherte ihm ständige Observation durch die Staatssicherheit. Heute ist er Bürgermeister der Kleinstadt Bismark.
Engagement für die Gleichberechtigung von Homosexuellen und schwules Leben waren in der DDR ebenso wenig gerne gesehen wie im Westen, vielleicht hatten die offiziellen Stellen in der DDR direktere Möglichkeiten, das Anders-Sein zu sanktionieren, Studienplätze zu verweigern oder Berufslaufbahnen zu behindern. „Out in Ost-Berlin“ zeigt, dass der Weg zu einer aufgeklärten Öffentlichkeit und einem gleichberechtigten schwulen Leben in der DDR auch ein langer und steiniger war. Der Film arbeitet die wesentlichen Stationen heraus, wie die Entstehung einer öffentlichen Szene am Alex, die Gründung der Homosexuellen Interessengemeinschaft Berlin (HIB) und die verhinderte Kranzniederlegung für die lesbischen Opfer des Nationalsozialismus im April 1985. Trotz persönlicher Opfer wirken die Protagonisten in Hicks und Strohfeldts Dokumentation aber nicht verbittert und berichten viel eher mit dem Bewusstsein, dass sie mit ihrem Engagement, ob privat oder öffentlich, letztendlich den Weg bereitet haben für ein freieres homosexuelles Leben in der DDR und darüber hinaus. (dakro)
„Out in Ost-Berlin – Lesben und Schwule in der DDR“, D 2013, 93 Min., QuickTime ProRes. Buch und Regie: Jochen Hick, Andreas Strohfeldt, Kamera: Jochen Hick, Thomas Zahn, Schnitt: Thimas Keller, Musik: Stefan Kuschner, Matthias Könniger, Produktion: Jochen Hick für Galeria Alaska Productions, Hamburg