63. Internationale Filmfestspiele Berline – Berlinale 2013

Die japanische Seele

„Senzo ni naru“ (Kaoru Ikeya, JAP 2013)

Vierzig Tage nach der Tsunami-Flutkatastrophe Anfang 2011: In den Trümmerfeldern aus Bauschutt und zersplittertem Holz recken sich kleine, grüne Blätter in Richtung Sonne. „Hier ist die Gurkensaat also abgeblieben. Sehr widerstandsfähige Pflanzen“, stellt Naoshi fest. Der virile fast 80-jährige Japaner hat den Tsunami überlebt. Sein erwachsener Sohn kam beim Versuch, eine alte Frau zu retten, ums Leben. Wie die Gurkensaat ist auch Naoshi von der widerstandsfähigen Sorte. Statt sein einsturzgefährdetes Haus gegen eine staatlich finanzierte Sozialwohnung zu tauschen, will er in seinem Dorf Kesen bleiben. Im Dorfrat versucht er, seine Nachbarn zu überzeugen, es ihm gleich zu tun. Einige wollen den Wiederaufbau selbst in die Hand nehmen und fühlen sich von den Kommunen, die Eigeninitiativen verhindern und die Bauarbeiten regulieren wollen, im Stich gelassen. Andere werden die finanziellen Entschädigungen annehmen und wegziehen. Die Dorfgemeinschaft droht zu zerbrechen.
Naoshi hat sich ein letztes Ziel gesetzt. Der gelernte Zimmermann will bis zum nächsten Frühjahr ein neues Haus auf seinem Grundstück errichten. Dort möchte er seine letzten Lebensjahre verbringen. Seine Frau ist schlicht dagegen und würde lieber wegziehen, aber Naoshi lässt sich nicht umstimmen. Unterstützt von wenigen Freunden beginnt für den Pensionär ein anstrengender, ruheloser Winter, Bäume werden ausgesucht, gefällt und abtransportiert. Im März 2012 wird die Baugrube ausgehoben, und ein buddhistischer Priester segnet die sauber gestapelten Bretter. Der Hausbau kann beginnen.
Widerständig wie die wieder keimende Gurkensaat: Der alte Naoshi plant den Wiederaufbau seines vom Tsunami verwüsteten Hauses. (Foto: Hiroko Masuike)
Kaoru Ikeya unterlässt in seinem Dokumentarfilm „Senzo ni naru“ jeglichen Kommentar zu den weitreichenden Folgen der nuklearen Katastrophe nach dem Tsunami. Sein Film konzentriert sich auf Naoshi, seine Familie und die Dorfgemeinschaft von Kesen, deren Häuser durch die Flut zerstört wurden. Naoshi möchte für sich ein Stück Normalität wiederherstellen, was unter den Umständen praktisch unmöglich erscheint. Sein Wille wird genährt von der Sorge um das Dorf, aber vor allem von der Trauer um seinen ertrunkenen Sohn. Damit sein Tod nicht sinnlos wird, will er den Kampf nicht aufgeben. Naoshi hat zudem den Weitblick des weisen Alten. Er ahnt, wie entscheidend es für das Überleben der Dorfgemeinschaft ist, sich nicht durch die Regulierungsmaßnahmen der Behörden vom Wiederaufbau abhalten zu lassen, sondern selbst Hand anzulegen. „Wenn wir uns nur auf die anderen verlassen würden, wären wir nur ein Bürde.“ Naoshi begann bereits wenige Tage nach der Katastrophe und noch bevor der Leichnam seines Sohnes gefunden wurde, mit dem Anlegen eines neuen Reisfeldes zur Selbstversorgung.
Ikeya gewährt in seinem Portrait des störrischen Alten auch einen Blick in die japanische Seele. Das Festhalten an Tradition und Gemeinschaft, gepaart mit einem unerschütterlichen Willen und Leidensfähigkeit sind nicht nur bei Naoshi und seiner Generation ausgeprägt. Plötzlich tauchen jugendliche Helfer aus dem ganzen Land auf, um den Dorfbewohnern bei den Holzarbeiten zu helfen. Das traditionelle Kesen Tanatabe Festival wird allen Widrigkeiten zum Trotz auf die Beine gestellt. Unter Tränen versichern sich die jungen Leute, nicht aufzugeben, bis ihre Gemeinde wiederhergestellt ist.
Die Stoik, die Naoshi and den Tag legt, aber auch sein Gemeinschaftssinn, der sich vor allem in seinem Engagement und seiner Opferbereitschaft manifestiert, nötigen Respekt ab. Ikeya stellt diese vielleicht auch typischen japanischen Attribute nicht aus, lange Strecken des Films bleibt er beobachtend und in der Distanz. Dass Naoshis Sturheit auch seine Kehrseite hat – die Ehefrau würde lieber früher als später aus dem Katastrophengebiet wegziehen -, wird nicht unterschlagen. So entsteht ein komplexes Portrait eines einfachen Mannes, der sich von den Umständen nicht unterkriegen lassen will. (dakro)
„Senzo ni naru“, JAP 2013, 118 Min., HDCAM. Regie: Kaoru Ikeya, Kamera Masaharu Fukui, Schnitt: Koichi Tayama.
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