62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012

Der Beginn der Résistance

„Das Meer am Morgen“ (Volker Schlöndorff, D/F 2011)

1941, ein Gefangenenlager in der Bretagne. Französische Polizisten und Militärs der Vichy-Regierung bewachen französische Gefangene, Kommunisten, Widerständler, Juden, Kriminelle. Die Bewacher rufen zum Appell. Von einer Liste werden 50 Namen verlesen, das Schicksal der Aufgerufenen ist klar: Tod durch Erschießung. Der Grund ist ein unverhältnismäßiger Vergeltungsakt der deutschen Wehrmacht für ein tödliches Attentat auf einen in Paris stationierten deutschen General. Hitler befiehlt 150 Franzosen als Geiseln zu nehmen, bis die Attentäter verhaftet werden können. 50 der Geiseln sollen sofort erschossen werden. Unter den Todeskandidaten ist auch der 17-jährige Guy Môquet, verurteilt wegen Verteilung von anti-deutschen Flugblättern in einem Pariser Kino. Wie die anderen zur Erschießung ausgewählten Gefangenen verfasst der Jung-Kommunist einen Abschiedsbrief an seine Mutter, seinen Bruder und seinen ebenfalls inhaftierten Vater. Die Erschießung der 50 Widerständler markiert den Beginn des organisierten französischen Widerstandes gegen die deutschen Besatzer, die Geburtsstunde der Résistance. Der Brief Guy Môquets wird seit einigen Jahren auf Wunsch des französischen Präsidenten an seinem Todestag in allen Schulen verlesen, seine Bedeutung als Agitator gegen das Nazi-Regime ist vergleichbar mit der Sophie Scholls im deutschen Widerstand.
Eindringliches Stück deutsch-französischer Geschichte: Jean-Pierre Daroussin, Jean-Marc Roulot und Sébastien Accart in „Das Meer am Morgen“ (Foto: Berlinale)
Die Nacherzählung dieses eindringlichen Stückes deutsch-französischer Geschichte hätte leicht zum Rührstück mit falschem Pathos geraten können. Mit Volker Schlöndorff hat man aber nicht nur einen Regisseur mit internationaler Reputation (Oscar für „Die Blechtrommel“, BRD 1979) verpflichtet, sondern einen Filmemacher mit Hang zur distanziert-kritischen Geschichtsbetrachtung und Affinität zur französischen Kultur. Schlöndorff ging nicht nur auf einem Jesuiten-Internat in der Bretagne zur Schule, er studierte auch in Paris Politologie. Als Regieassistent begann er seine Filmkarriere in den 60ern bei den Nouvelle-Vague-Größen Alain Resnais, Louis Malle und Jean Pierre Melville. Mit „Die Fälschung“ (BRD/F 1981), der Marcel-Proust-Verfilmung „Eine Liebe von Swann“ (BRD/F 1984) und „Der Unhold“ (D/F/GB 1996) nach Michelle Tournier hat Schlöndorff bereits eine Reihe deutsch-französischer Produktionen auf die Leinwand gebracht.
Der von arte, dem Bayrischen Rundfunk, NDR und SWF co-produzierte Fernsehfilm fällt dann auch sehr angenehm durch seine detaillierte aber gleichzeitig distanzierte Erzählhaltung auf. Ein dreifacher Perspektivwechsel verhindert die vorzeitige, emotionale Identifizierung mit den Opfern dieses ungeheuren Kriegsverbrechens und öffnet dafür die Augen für die menschenverachtende, monströse Mechanik des faschistischen Militärapparates. Schlöndorff erzählt aus den Perspektiven Guy Môquets, eines einfachen deutschen Soldaten, der zum Erschießungskommando gehören wird, und des deutschen Offiziers, Schriftstellers und Philosophen Ernst Jünger, der die Ereignisse um die Geiselnahmen der deutschen Wehrmacht in einem Bericht festhält.
Aus dieser jüngst entdeckten und veröffentlichten Denkschrift „Über die Geiselfrage“ sowie einigen Briefen Jüngers formt Schlöndorff seine historisch verbürgte Figur des intellektuellen, nationalkonservativen, und verhalten regime-kritischen Offiziers Jünger. Weniger an Fakten orientiert, aber basierend auf einer frühen Novelle Heinrich Bölls ist die Jedermann-Figur des Soldaten Otto, der noch keinen Feind erschossen hat und nun vor der Entscheidung steht, an der Hinrichtung der französischen Geiseln teilzunehmen. Schlöndorff porträtiert seine deutschen Protagonisten ohne vorgefasstes Urteil als ambivalente Charaktere mit einem gewissen Handlungsfreiraum. Die Offiziere versuchen, ihre Vorgesetzten von der Unverhältnismäßigkeiten der Vergeltungsaktion zu überzeugen. Sie wollen das bis dahin eingespielte, auf Kollaboration zielende Verhältnis zur französischen Bevölkerung nicht aufs Spiel setzen. Zur Befehlsverweigerung führen ihre Bedenken allerdings nicht. Lediglich einen nüchternen Bericht der Geschehnisse verfasst Ernst Jünger, den der mit der Widerstandsbewegung „20. Juli“ sympathisierende Offizier am Tag nach dem Hitler-Attentat eilig verbrennt (eine Kopie überlebte). Der Soldat Otto hätte seiner Berufung zum Erschießungskommando durchaus widersprechen können, ein faktisches, allerdings selten genutztes deutsches Militärrecht.
Schlöndorff erzählt die Geschehnisse um die Geiselnahme und Erschießung der französischen Widerständler durch die deutsche Wehrmacht als Folgen einer Reihe von Gewissensentscheidungen auf beiden Seiten. Er bringt die abstrakte Geschichte zurück auf eine (un-) menschliche, persönliche Ebene, ohne historische Fakten zu vernachlässigen. Oberflächliche, emotionsgeladene Geschichtsklitterung ist Schlöndorffs Sache dankenswerter Weise nicht. (dakro)
„La Mer a l’Aube“ / „Das Meer am Morgen“, D/F 2011, 90 min., Buch & Regie: Volker Schlöndorff, Kamera: Ludomir Backchev, Schnitt: Susanne Hartmann, Darsteller: Léo Paul Salmain, Marc Barbé, Ulrich Matthes, Jacob Matschenz, Harald Schrott u. a. „Das Meer am Morgen“ wird am 23. März 2012, 20.15 Uhr auf arte ausgestrahlt.
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