62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012
Melancholie und koloniales Melodram
„Tabu“ (Miguel Gomes, Portugal, Deutschland, Brasilien, Frankreich 2012)
Vielleicht kann man Miguel Gomes’ ungewöhnlichen Film „Tabu“ am ehesten gerecht werden, wenn man ihn in der Hauptsache als künstlerischen Versuch für eine „Spezies“ von filmhistorisch interessierten Cineasten, Kritikern und Filmakademikern begreift, was nicht ironisch zu verstehen ist. Sehr reflektiert spielt der Regisseur mit seinem Schwarzweißmaterial, seinen Figuren, Geschichten und Geschichte, Stimmungen und filmischen Mitteln. Doch bei aller vorgeblichen Nostalgie, Melancholie und Humor, mit denen der Film seine Handlung vorantreibt, weiß doch gerade dieses intelligente Spiel mit Schwarzweiß (35mm im ersten Teil und 16mm – sogar z.T. mit Bolex-Handkamera gefilmt – im zweiten), dem klassischen, alten Kinoformat (1:1,37), mit dem ungewöhnlichen Einsatz von Bild und (Off-) Ton sowie den Kino- und Kolonialklischees, eine Distanz beim Zuschauer zu schaffen, durch die der Film über weite Strecken nur im Kopf funktioniert und nicht in den Emotionen.
Es beginnt mit schönen Stummfilmbildern, die in ihrem ethnologisch dokumentarischen Stil, ihrer „afrika-romantischen“ Haltung und durch den Filmtitel beeinflusst wie eine Hommage an Murnau wirken. Ein vollbärtiger Forscher in Schwarzafrika trauert um seine tote Frau, die ihm ebenso traurig am Bach erscheint. Mutlos durchstreift er darauf mit einer ansehnlichen schwarzen Trägerschaft Busch und Savanne. Unterlegt sind diese schwarzweißen Bilder mit Stummfilmklaviermusik. Ein Erzähler kommentiert aus dem Off das weitere Geschehen. Von Seelenschmerz überwältigt stürzt sich der Forscher in den Fluss. Die mit Sackstoff bekleideten „eingeborenen“ Träger kreisen darauf im rituellen Stammestanz. Der Forscher verwandelt sich in ein Krokodil – oder wird von ihm gefressen. Das bleibt offen. Seine verstorbene Frau sitzt des Nachts jetzt bei diesem vom Kommentar als melancholisch apostrophierten Reptil, in dem wohl die Seele ihres Mannes zu stecken scheint. Schon hier funktionieren Gomes’ Spielregeln, souverän hantiert er mit Afrika- und Kolonialmythos sowie mit Filmgeschichte. Doch ist es mehr als ausgelebter Wissensschatz des ehemaligen Filmkritikers Gomes?
Der erste Teil des Film ist mit dem Titel „The Lost Paradise“ überschrieben und zeigt mehr als eine halbe Stunde lang das traurige und eher düstere Leben dreier einsamer alter Damen im heutigen Lissabon. Hauptperson ist hier Pilar (Teresa Madruga), eine allein stehende Rentnerin, die sich stets hilfsbereit zeigt und bemüht, sozial aktiv zu sein. Sie wird im zweiten, längeren Hauptteil des Films keine Rolle mehr spielen. Pilar sorgt sich rührend um ihre wunderliche Nachbarin Aurora (Laura Soveral), die ihre ganzen finanziellen Barschaften im Casino verspielt, Anti-Depressiva schluckt, Absurdes träumt und bisweilen geistig verwirrt wirkt. So beschuldigt sie ihr ebenso betagtes kapverdisches Dienstmädchen Santa (Isabel Cordoso), sie mit Vodoo verhexen zu wollen, obwohl diese stoisch den Haushalt ihrer Herrin zusammenhält und für sie sorgt.
Diese Geschichte spielt in dem kurzen Zeitraum um die Jahreswende und zieht sich strapazierend hin. Man ahnt vorerst nur schwer, worauf sie zielt, und warum das in toto doch eher triste Leben dieser Frauen für den Zuschauer irgendwie von Belang sein soll. Nur manch rührender Einfall, wie z.B. dass Santa ihr Portugiesisch in einem Lesezirkel mit dem Robinson-Cruso-Roman zu verbessern versucht, oder ein Kinobesuch Pilars, bei dem ihr Begleiter selig den Kinoschlaf zu genießen scheint, in den mancher Besucher der Berlinale-Wettbewerbsvorstellung bei dieser relativen Handlungsarmut und dem gequälten Tempo auch schon abzurutschen drohte, bricht die wohlwollend bemühte Aufmerksamkeit des Zuschauers auf. Schließlich stirbt Aurora an Altersschwäche. Ein von ihr hinterlassener alter Brief wird von Pilar an den vorgesehenen Adressaten abgeschickt. Und so erscheint ein stattlicher Mann auf der Beerdigung, der alte Gian Luca Ventura (Henrique Espirito Santo). Dieser erzählt von nun an mit seiner sonoren Stimme im zweiten, längeren Teil des Films, der mit „The Paradise“ ironisch betitelt ist und in ein nicht näher bezeichnetes Land ins Afrika der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückführt.
Hier tritt die erzählte Handlung gleichsam aus dem abgebildeten Geschehen heraus. Wir sehen zwar, dass die Personen miteinander sprechen, hören aber keine Dialoge. Wir bekommen sie durch die Ich-Erzählerstimme des alten Jean Luca beschreibend vermittelt, wie auch vieles anderes, so auch eine Kommentierung. Die restliche Tonebene gewinnt dadurch eine außergewöhnliche Autonomie. Man sieht nicht nur das Drama, sondern lauscht ihm quasi auch, hört die gesamte „Atmo“ anders, die in der Mischung zur Erzählerstimme und zur teilweise begleitenden Klaviermusik besonders hervorgehoben scheint: Bewegungsgeräusche, Kinderlachen, das Rauschen von Regen und Wind und anderes mehr. Dieser Verfemdungseffekt entfernt von der unmittelbaren Identifikation mit den Protagonisten, bringt auf eine neue reflektierende Metaebene, in der der Erzählersprache in ihrer Poesie gewiss ein besonderes Gewicht zukommt. Leider kann der des Portugiesischen nicht mächtige Zuschauer das eher nur mutmaßen, weil es zur Komposition des Filmes passen würde. Das Berliner Publikum war jedoch in seiner großen Mehrheit auf die meist auf den sachlichen Gehalt herunter gebrochenen englischen Untertitel angewiesen, deren Studium sich im Erzählfluss und Duktus – es werden z.B. auch Briefe zitiert – manchmal zum Lesedrama gestaltete. Ich ertappte mich oft auf Suche und Spur nach Sinn und soziokulturellem Witz des Ganzen und freute mich, wenn ich dem eigenen Anspruch hier und da gerecht zu werden glaubte.
Das klingt jetzt vielleicht komplizierter als es ist, arbeitet der Film doch nun ein typisches Farmerdrama in „cineastischer“ Koloniallandschaft- und -zeit ab. Eine afrikanische Teeplantage am Fuße des fiktiven Mount Tabu, die von der jungen Aurora und ihrem kernigen Ehemann bewirtschaftet wird, dient als Schauplatz eines Melodrams der portugiesischen Mittelschicht unter Schwarzen. Es geht um die Affäre der jungen, schwangeren Aurora (Ana Moreira) mit dem hier noch jungen, dandyhaften Weltenbummler Gian Luca (Carloto Cotta), der in amüsierter Pose in einer weißen Band als Schlagzeuger hinreißende amerikanische Songs begleitet. Die Affäre wird sich letztlich zum unerfüllten Glück auswachsen, das seinen Endpunkt durch einen Totschlag gesetzt bekommt.
Das koloniale Paradies in der Zeit vor den Unabhängigkeitskämpfen der 60er Jahre als Illusion, Inhalt und dessen Folie zugleich ist eines von mehreren Themen, die der Film durchfabuliert. Die Einheimischen sind friedlich und nur Staffage, scheinen glücklich unter der souveränen Fremdherrschaft. Schwarzes Kinderlachen, stattliche und lässige Weiße auf Großwildjagd in der Savanne oder bei illustren Partys mit Musikband und Cocktail am Swimmingpool. Die gekonnt gestalteten Bilder wirken mitunter in ihrem plakativen Schwarzweiß wie aus einem Illustriertenroman, der spielerisch zwischen Hollywoodmythos und vorgeblich Dokumentarfilmhaftem hin und her changiert. Die Darsteller sind vorzüglich, posieren glänzend, wirken in ihren nicht hörbaren Gesprächen authentisch in einer Filmrealität, wie wir sie z.B. aus Hemingway-Verfilmungen von Hollywood kennen.
„Tabu“ ist eine ausgeklügelte Reflexion von Kinogeschichte und Kolonialmythos für ein sehr ausgewähltes Arthouse-Kinopublikum, das sein Goutieren durch eine in gutem Deutsch kongenial untertitelte Fassung noch steigern könnte. (Helmut Schulzeck)
„Tabu“, Portugal, Deutschland, Brasilien, Frankreich, 2012, schwarzweiß, 119 Min., Regie: Miguel Gomes, Buch: Miguel Gomes und Mariana Ricardo, Kamera: Rui Poças, Schnitt: Telmo Churro und Miguel Gomes, Darsteller: Teresa Madruga, Laura Soveral, Ana Moreira, Carloto Cotta. Der Film wurde gefördert von der FFHSH.