62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012

Retrospektive: “Die rote Traumfabrik”

Die Retrospektive “Die rote Traumfabrik” zeigt als Ergebnis einer aufwändigen, mehrjährigen Recherche in 32 Programmen 44 Filme – darunter Raritäten, über deren Erhaltungszustand in vielen Fällen wenig bekannt war. Mehrere Archive haben für die Retrospektive Filme in neuen Kopien wieder verfügbar gemacht: so das Bundesarchiv/Filmarchiv, die Deutsche Kinemathek, das Österreichische Filmmuseum und das Russische Staatliche Archiv für Film- und Fotodokumente Krasnogorsk. Das Österreichische Filmmuseum präsentiert in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinemathek erstmals eine neue Restaurierung von Fjodor OzepsVersion des Tolstoi-Dramas Schiwoi trup (Der lebende Leichnam, 1929), die auf der Basis sechs unterschiedlicher Fassungen entstand.
Die zahlreichen Stummfilme im Programm der Retrospektive werden von international renommierten Musikern begleitet. Die holländische Stummfilmpianistin und Komponistin Maud Nelissen und der Brite Stephen Horne waren bereits bei früheren Retrospektiven zu Gast. Der Kanadier Gabriel Thibaudeau, gefragter Pianist, Komponist und Dirigent, begleitet zum ersten Mal Stummfilme im Rahmen der Berlinale. Eunice Martins ist den Berlinern als Hauspianistin des Kino Arsenal und dem internationalen Publikum von zahlreichen Festivals gut bekannt.
Das Filmprogramm der Retrospektive wird ergänzt durch eine Reihe von Veranstaltungen in der Deutschen Kinemathek. Die Kuratoren Günter Agde und Alexander Schwarz führen im Gespräch mit Sektionsleiter Rainer Rother in das Thema der Retrospektive ein. Alexander Schwarz stellt außerdem gemeinsam mit der verantwortlichen ARTE-Redakteurin Nina Goslar vorab seine aktuelle Filmdokumentation Die rote Traumfabrik vor. Adelheid Heftberger, Kuratorin der Wertow-Sammlung im Österreichischen Filmmuseum, spricht über die wechselvolle Geschichte von Dsiga Wertows einziger Arbeit für die “rote Traumfabrik”, dem vielfach veränderten Film Tri Pesni O Lenine (Drei Lieder über Lenin). Zwei Sonderveranstaltungen geben Einblick in die Arbeit der Deutschen Kinemathek und nehmen Bezug auf das 100. Jubiläum der Babelsberger Filmstudios.
Als weiterführende Lektüre zur Retrospektive empfiehlt sich die zur Berlinale im Verlag Bertz + Fischer erscheinende umfangreiche Publikation “Die rote Traumfabrik. Meschrabpom-Film und Prometheus 1921-1936”. Als erste deutsche Monografie über dieses legendäre deutsch-russische Filmexperiment versammelt der von Günter Agde und Alexander Schwarz herausgegebene Band Studien russischer und deutscher Autoren zur Geschichte und Ästhetik der Filme. Ergänzt werden diese durch historische Dokumente, unveröffentlichte Fotos und zeitgenössische avantgardistische Filmplakate sowie eine vollständige Filmografie.

Premiere der restaurierten Film- und Musikfassung von Eisensteins Meisterwerk Oktober

Am 10. Februar 2012 präsentieren die 62. Internationalen Filmfestspiele Berlin im Friedrichstadt-Palast die Premiere einer rekonstruierten Fassung von Oktober (Oktjabr, UdSSR 1928, R: Sergej M. Eisenstein). Die Aufführung mit der Originalmusik Edmund Meisels vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter dem Dirigat von Frank Strobel ist ein Berlinale Special und Teil der Retrospektive “Die rote Traumfabrik”.
Oktober steht beispielhaft für die Revolutionsfilme, die die Wahrnehmung des sowjetischen Kinos jener Zeit stark prägte. Besonders in Verbindung mit der kongenialen Musik Meisels verspricht er ein großes Erlebnis”, meint Rainer Rother, Leiter der Retrospektive und Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek.
Oktober zeichnet die geschichtlichen Prozesse von der Februarrevolution bis zum Oktober 1917 nach und kommentiert die Ereignisse durch Montagen voll Pathos und Ironie. Der Film entstand im Auftrag des Exekutivkomitees der KPdSU zur Feier des 10. Jahrestags der Oktoberrevolution. Gedreht an Originalschauplätzen, setzt Eisensteins Film der kämpfenden Bevölkerung Petrograds und früheren Kampfgenossen Lenins ein Denkmal, die 1928 politisch in Ungnade gefallen waren. Dies führte dazu, dass der Film nach seiner Uraufführung am 14.03.1928 im Bolschoi-Theater zensiert wurde und aus den Kinos verschwand.
In den 1960er Jahren arbeitete Naum Klejman im Staatlichen Filmarchiv Gosfilmofond an einer filmwissenschaftlich fundierten Rekonstruktion. Auf dieser Version basiert die neue HD-Restaurierung aus dem Filmmuseum München, das in den 1970er Jahren eine Kopie von Gosfilmofond erworben hat. Für die Berlinale-Aufführung wurde die Münchner Kopie fotografisch verbessert durch Material vom EYE Film Instituut, Amsterdam, und dem Bundesarchiv/Filmarchiv, Berlin.
Die große Wiederentdeckung bei dieser Aufführung ist die an die rekonstruierte Fassung angepasste Filmmusik von Edmund Meisel. Wie bei Panzerkreuzer Potemkin entstand auch bei Oktober die Musik zur deutschen Fassung des Films im Auftrag des deutschen Verleihers Prometheus. Meisel plante seine Musik “nach einem aufgezeichneten Steigerungssystem, das die fortschreitende Handlung unterstreichen soll”. Das Resultat ist eine höchst innovative Filmmusik, die mit ihrer geräuschhaften Klanglichkeit und Rhythmisierung wie ein Vorbote der Punk- und Technomusik wirkt und seinerzeit heftig umstritten war.
Edmund Meisel (1894 – 1930) hat als Komponist epochaler Filmmusiken die Filmgeschichte maßgeblich geprägt. Er experimentierte mit neuen Technologien der Musikbegleitung im Theater und Kino, schrieb 14 Bühnenmusiken und zehn Kompositionen für Stumm- und Tonfilme, er dirigierte, machte Hörspiele, Plattenaufnahmen und Studioproduktionen. Als er 1930 starb, hatte die Filmwelt einen ihrer produktivsten Komponisten verloren.
Berlinale-Direktor Dieter Kosslick freut sich über die Premiere: “Oktober ist ein Meisterwerk der Filmgeschichte. Es ist toll, dass wir unserem Publikum die restaurierte Fassung zeigen können – noch dazu mit der musikalischen Begleitung des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin. Ich bin sicher, dass der Film auch heute die Menschen begeistern wird.”
Oktober in der restaurierten Fassung ist ein Initiativprojekt von ZDF/ARTE, realisiert in Koproduktion mit Deutschlandradio Kultur, dem Filmmuseum München, der roc berlin und dem Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI), Moskau. Anlässlich der Berlinale-Premiere strahlt ARTE die Aufzeichnung der Oktober-Aufführung am Mittwoch, dem 15. Februar 2012, um 23:00 Uhr aus.

(nach Pressemitteilungen der Berlinale)
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