61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Ein zerrissenes Literaten-Schicksal in der DDR

„Vaterlandsverräter“ (Annekatrin Hendel, D 2011)

In einem Regiekommentar zu „Vaterlandsverräter“ spricht die Filmemacherin Annekatrin Hendel über die Zerrissenheit ihres Protagonisten, des „DDR-Schriftstellers“ Paul Gratzik und ihre ortlos gewordenen Erinnerungen, weil ihr „Vaterland“ (besser noch: „Land der Väter“), in denen diese Erinnerungen spielen, untergegangen sei. Ihr Dokumentarfilm über einen rebellischen Charakter und seine problematische Schriftstellerkarriere hat allerdings einen geradezu poetisch auf den Betrachter wirkenden Ort. Es ist ein einsam in der Uckermark gelegenes Gehöft, fast verlorenen in den weiten Feldern und doch geschützt von Bäumen bewacht. Auf diesem halb verlassenen Bauernhof lebt der über 70-jährige Paul Gratzik, ein Literat nicht aus der allerersten Garde der ehemaligen DDR-Prominenz oder man kann auch sagen „Bohéme“, der aber doch zeitweilig in den 60er und 70er Jahren mit seinen Arbeiten einen nicht geringen Eindruck auf das Theaterleben in der DDR machte, ein Freund Heiner Müllers, der auch in „Westdeutschland“ mit seinen Veröffentlichungen im Rotbuchverlag auf Interesse stieß. Er selbst nennt sich lieber „Dichter“ als Schriftsteller, so hat es zumindest den Anschein, wenn man Hendels Film verfolgt.
Zu diesem immer noch beeindruckenden Mann pilgert die Filmemacherin in eine winterliche schneeverwehte, frostige Einöde. Sie erfährt dort Geborgenheit in seinem mit Briketts beheizten Räumen. Sie taut im Gegenpart diesen wirschen Charakter auf, der nach eigenem Bekunden nicht mit Menschen umgehen kann. Gratzik wird seiner ihm vielleicht auch unbewusst zugedachten Rolle als Ersatzvater und leidender DDR-Zeuge mit allem Zorn und Zärtlichkeit in einer bravourösen Art gerecht. Und das obwohl Hendel in Gratziks Lebenswunden beharrlich und geduldig herumstochert. Sie fragt immer wieder unerschrocken nach, steckt seine Wutausbrüche weg, als ob es nichts wäre. Und Paul Gratzik kann wirklich sehr ungemütlich, gerade zu bedrohlich werden, wenn seine Gesprächpartnerin auf seine Vergangenheit als inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit der DDR zu sprechen kommt.
Schon im Prolog lädt er Hendel mit seiner widersprüchlichen Art, in der er einerseits zu seinen sozialistischen Prinzipien und Illusionen wie in Kadertreue steht, andererseits aber doch von moralischen Gewissensbissen geplagt wird („Der größte Feind im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant.“), zum Nachfragen ein. Um dann in einem Wutanfall zu explodieren („Ich habe kein Gewissen, ich habe keine Moral, jedenfalls nicht eure. Wir haben euch Kapitalisten viel zu wenig ans Bein gepisst … diese Ackermanns …“)
20 Jahre lang hat Gratzik Freunde und Kollegen aus der Literaten- und Theaterszene fürs Politbüro bespitzelt, um dann zu erkennen, dass er und sein doch so von ihm gewollter DDR-Staat auch an der Stasi und ihren Zuträgern zugrunde gingen. Anfang der 80er Jahre hat er dann seine IM-Tätigkeit, trotz befürchteter Repressalien und sogar Todesangst, aufgegeben und sich in Folge bei vielen der Betroffenen als ehemaliger IM geoutet. Dadurch wurde er praktisch arbeitslos in der DDR. Er bekam kein Bein mehr an Land, wie ihm sein Führungsoffizier zuvor schon prophezeit hatte.
Wie perfide und allumfassend das staatsgelenkte Spitzelsystem in der DDR war, wird im Film vor allen durch ein Gespräch der Filmemacherin mit einer ehemaligen Geliebten Gratziks, der Opernsängerin Renate Biskup, deutlich. Sie erzählt von ihren Erfahrungen mit der Stasi, die immer an allen Karrieren beteiligt gewesen sei und diese auch beenden konnte. In Bezug auf ihren früheren Freund bis dato noch ahnungslos, fällt sie aus allen Wolken, als ihr Hendel schließlich die traurige Wahrheit offenbart. Gratzik wiederum wurde zu gleichen Zeit, als er Dinge von und über Biskup an die Stasi weiterleitete, von einem anderen Kollegen bespitzelt, über den er selber einige Jahre zuvor für die Stasi Berichte schreiben musste. „Geistiger Inzest der Stasi“, empört sich Biskup fassungslos, während Gratziks Führungsoffizier über dessen Vertrauensbruch nur gelassen davon spricht, dass seinem Schützling in diesem Fall wohl die staatlichen Interessen mehr bedeutet hätten als seine persönlichen.
Annekatrin Hendels Film schildert ein widersprüchliches, in seinen tragischen Wendungen wohl nicht untypisches Schicksal eines DDR-Intellektuellen, der sich wie viele andere einen besseren Staat, wenn nicht das „Paradies auf Erden“, erträumte und der trotz aller rührenden Selbsterkenntnis und polternder Reue am Ende nicht von seinen Illusionen lassen kann. (Helmut Schulzeck)
„Vaterlandsverräter“, D 2011, 99 Min., Regie und Buch: Annekatrin Hendel, Kamera: Johann Feindt und Jule Katinka Cramer, Martin Langner, Can Elbasi, Ton: Paul Oberle, Nic Nagel, Ludwig Bestehorn, Schnitt: Jörg Hauschild, Produktion: Holly Tischmann, Redaktion: Anne Even. Eine Koproduktion von It Works! Medien in Zusammenarbeit mit Arte/ZDF. Gefördert von Deutscher Filmförderfonds, Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien, Kulturelle Filmförderung Mecklenburg Vorpommern, Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig Holstein, DEFA-Stiftung, Nipkow-Programm, German Films.
Der Film erlebt seine Uraufführung bei der Berlinale 2011 in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“. Im März ist er beim Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide in einer Sondervorführung zu sehen.
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