61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011
„Vaterlandsverräter“ von Annekatrin Hendel läuft in der Perspektive
Der Dokumentarfilm „Vaterlandsverräter“ von Annekatrin Hendel läuft auf der Berlinale in der Sektion Perspektive Deutsches Kino.
Synopsis
So schwer, wie man zu ihm hinkommt, kommt man auch an ihn heran. Im Nirgendwo der Uckermark kämpft sich die Regisseurin Annekatrin Hendel durch den Schnee. Es ist der Drehstart für einen Film über den 75 Jahre alten Schriftsteller Paul Gratzik, Stasi-Zuträger, Aussteiger, Dissident. Das erste, was Gratzik trotzig von sich gibt ist: Über die Stasi rede er nicht. Das könne sie, Annekatrin Hendel, sich aus dem Kopf schlagen. Punkt.
Annäherung: Paul Gratzik im Schnee der Uckermark (Filmstill)
Aber es gibt diesen Film doch. Er ist einerseits das Psychogramm eines der widersprüchlichsten Exemplare „Mann“ in seinen Extremen: Satyr, Verführer, Radikalist und Eremit. Andererseits liegt mit „Vaterlandsverräter“ eine Geschichte über die DDR, ihre Kritiker und die Stasi vor, wie sie 20 Jahre nach ihrem Ende, noch nicht erzählt worden ist. Gratzik hat seine Arbeit als IM wegen Vaterlandsverrat, dem der Funktionäre an den Menschen in der DDR, beendet und sich radikal geoutet. Die Konsequenzen, nicht mehr veröffentlichen zu können und selbst bespitzelt zu werden, nimmt er damit in Kauf.
Annekatrin Hendel ist es gelungen, ein Leben nachzuzeichnen, an dessen Ende ein Mann steht, den man verfluchen und gern haben muss, gleichzeitig. Für den Film zieht sie mit ihm durch wichtige Stationen seines Lebens und erlebt die Härten seines Alltags. Zu Wort kommen eine verflossene Liebe, seine erwachsenen Kinder, Freunde, Kollegen, sein Führungs-Offizier und ein IM, der später auf ihn angesetzt wird.
Und natürlich Gratzik selbst, seine Erinnerungen, seine Texte und die von ihm verfassten Stasiberichte. Dass er, der sich gerne um Kopf und Kragen redet, dabei letztlich keine Erwartungshaltung bedienen muss, ist der sensiblen Handschrift dieser Filmemacherin zu verdanken. Und ihrer hartnäckigen Neugier: dass er dann zwar doch mit ihr redet, sich aber in seiner ihm immanenten Zerrissenheit und Sturheit treu bleiben darf. Annekatrin Hendel verzichtet von vornherein auf die „Moral von der Geschicht’“ und kann resümierend damit leben, dass Täter und Opfer in einer Person sich vor Allem zu „Mensch“ neutralisiert. (Juliane Voigt)
Regiekommentar Annekatrin Hendel
„Zur Wahrheit braucht man die meiste Phantasie“ – Heiner Müller
Weil das „Vaterland“, in dessen Räume meine Erinnerungen spielen, unterging, sind diese seltsam ortlos geworden und hängen somit an Menschen und Schicksalen. Mit diesem Film stelle ich Fragen einen Vertreter unserer Vätergeneration, den Schriftsteller Paul Gratzik. Dieser Film ist kein Enthüllungs- oder Rechtfertigungsfilm, sondern einer über die Zerrissenheit eines deutschen Literaten, der mit seinen Werken durchaus prägend wirkte. Paul Gratzik ist in Widersprüchen zu Hause. Jede Auseinandersetzung mit Paul Gratzik ist gleichzeitig eine große intellektuelle und emotionale Herausforderung. Er hat Geschichte wohl nie harmonisch erfahren. Die Herstellung von Harmonie hat ihn aber auch nie interessiert. Im Gegenteil, die Energien seines Lebens und seiner Kunst hat Paul Gratzik aus der Entzweiung der Dinge geschöpft. Das ist spannend, denn der notorische Katastrophenliebhaber und Untergangsprophet hält mit bemerkenswerter Beharrlichkeit bis heute an der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft fest, auch wenn er seine Zuversicht stets mit Zweifeln artikuliert. Er funkt uns einen Lebensrhythmus, einen antik anmutenden Sprachduktus und Botschaften entgegen, die in unserer Welt nicht mehr vorkommen. Ich konfrontiere die Zuschauer mit den alten und neuen Ideen meines ungewöhnlichen Protagonisten, so verwickelt, spannend, leidenschaftlich und manipulativ, wie ich sie seit über 20 Jahren von ihm kenne. Und der Film erzählt von der privaten Person Paul Gratzik, die nicht der „unauffällige“ Stasizuträger war, wie wir ihn aus Geschichtsbüchern und Filmen kennen, sondern charismatisch, pompös, schroff und charmant. Zum Glück ist Paul Gratzik kein weiser Herr, der über sein Leben plaudert, sondern er ist noch immer streitbar und trotzig und irgendwie auch, obwohl alles dreimal so groß und soviel, wie jeder andere Mensch. (Annekatrin Hendel)
Credits
„Vaterlandsverräter“, ein Film von Annekatrin Hendel
- mit: Paul Gratzik und Matthias Hering, Ernstgeorg Hering, Ursula Karusseit, Raphaela Schröder, Günter Wenzel, Renate Biskup, Antje Mauksch, Gabriele Dietze, Sascha Anderson, Philipp Etzel
- Sprecher: Stefan Kowalski
- Kamera: Johann Feindt, Jule Katinka Cramer, Martin Langner, Can Elbasi
- Schnitt: Jörg Hauschild
- Musik: Louis Rastig
- Ton: Paul Oberle, Nic Nagel, Ludwig Bestehorn
- Animation/ Titeldesign: Moritz Koepp
- Sounddesign: Moritz Hoffmeister, Andreas Hartwig
- Digitale Postproduktion: WAVELINE, René Frölke
- Produktion: Holly Tischman
- Redaktion: Anne Even
- Eine Koproduktion von IT WORKS! Medien GmbH in Zusammenarbeit mit ARTE und mit Förderung durch Deutscher Filmförderfonds, Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien, Kulturelle Filmförderung Mecklenburg Vorpommern, Filmwerkstatt der Filmförderung Hamburg Schleswig Holstein, DEFA-Stiftung, Nipkow-Programm, German Films
- Infos: www.vaterlandsverraeter.com
(nach Produktionsnotizen von IT WORKS! Medien GmbH)