52. Nordische Filmtage Lübeck 2010
Scandinavian Blue: Zwei Vorträge in der Retrospektive
“Dänische Western” und “Schwedische Naturfilme”, zwei Synonyme für skandinavische Erotikfilme, belegen semantisch die Verschämtheit und gleichzeitige Verspieltheit mit der man in den 60er und 70er Jahren dem Thema Sex auf der Leinwand begegnete. Ähnlich unschuldig, aber viel verheißend klingen die Titel der skandinavischen Filmexporte: “Die Strandbiene” (Knut Leif Thomsen, DK 1966) oder “Verbotene Früchte der Erotik” (Gustav Wiklund, SWE 1971). Die diesjährige Retrospektive der Nordischen Filmtage Lübeck begab sich auf Spurensuche nach dem Ursprung, Höhepunkten und dem Niedergang des skandinavischen Erotikfilms. Bei näherer (film-) historischer Betrachtung lässt sich, so Retrospektive-Leiter Jörg Schöning, möglicherweise eine Analogie zwischen Erfolg und Niedergang des Erotikfilms und Aufstieg und Krise des “Wohlfahrtsstaates” ziehen. Auf jeden Fall bereitete die Liberalisierung der Darstellung von Sexualität im schwedischen und dänischen Kino den Weg für eine weltweite “sexuellen Revolution”. Mit ihr fielen in vielen Ländern die strafrechtlichen Verbote von pornografischen Filmen (in Deutschland 1975), und schnell wandelte sich das Geschäft mit Erotik- und Sexfilmen zur Pornoindustrie heutiger Ausprägung.
Als Referenten begleiteten der Stockholmer Filmarchivar Rickard Gramfors und der in Kopenhagen ansässige, amerikanischen Filmhistoriker und -sammler Jack Stenvenson mit jeweils einem Vortrag die Filmauswahl der Retrospektive.
Rickard Gramfors, Mitbegründer des schwedischen Filmclubs, Filmverleihs und DVD-Labels “Klubb Super 8”, wies gleich zu Beginn seines kurzweiligen Vortrages auf die lange Exploitation-Tradition in der schwedischen Filmgeschichte hin, die den meisten Schweden gar nicht bewusst sei. Nicht alle heute etablierten Regisseure und Schauspieler – wie der ebenfalls bei den NFL gastierende Stellan SkarsgÃ¥rd – gingen unverkrampft und offen mit ihren ersten Auftritten in Sexfilmen um. Denn Schweden sei bei weitem nicht so tolerant, wie es sein Ruf Glauben mache, so Gramfors. Allerdings war Schweden das erste Land, das den Sexualkundeunterricht in den Schulplan aufnahm. 1955 war das, vier Jahre nach “Sie tanzte nur einen Sommer” (Arne Mattson, 1951) und zwei Jahre nach Ingmar Bergmans “Die Zeit mit Monika” (1953).
Beginn der cineastischen Liberalisierung: “Sie tanzte nur einen Sommer” (SWE 1951)
Diese beiden Filme haben nicht nur national eine Liberalisierung in Gang gebracht und eine internationale Kontroverse ausgelöst, sondern riefen auch amerikanische Kinoverleiher auf den Plan, die mit “scharfen” Schwedenfilmen schnelle Kasse machen wollten. Der Verleiher Kroger Babb kürzte z.B. “Summer with Monika” um 30 Minuten und erhöhte damit schlicht den Anteil an Nacktszenen. Den Film benannte er in “Monika, Story of a Bad Girl” (1956) um und verteilte dazu Postkarten mit Nacktaufnahmen der Hauptdarstellerin Harriet Anderson.
Verhalf Bergman zum internationalen Durchbruch: “Die Zeit mit Monika” (SWE 1953)
Nach den frühen “Luft und Liebe”-Filmen um junge Paare und ihre Entdeckung der Sexualität in der freien Natur thematisierten die Filme der späten 60er die Sexualität zwischen kommerzieller Ausbeutung und politischer Agitation. Prominentestes Beispiel ist die Polit-Satire und Film-im-Film-Mockumentary “I Am Curious – Yellow” (Vilgot Sjöman, 1967) – sie anzuschauen, ist auch heute noch ein unglaubliches, intellektuelles Vergnügen. Es folgten die so genannten Aufklärungsfilme, deren explizite Darstellungen die staatlichen Film-Zensoren vor ein neues Problem stellen sollten. Mit der Freigabe dieser Filme war dem pornografischen Film der Weg geebnet, auch wenn sich Anfang bis Mitte der 70er Jahre noch Exploitation-Produktionen mit einem gewissen Qualitätsanspruch halten sollten. Binnen weniger Jahre werden die “Schwedenfilme” in der Drastik des Dargestellten insbesondere durch amerikanische Produktionen überboten. In den USA läutet der Erfolg des Hardcore-Pornos “Deep Throat” (Gerard Damiano, USA 1972) den “Porno Chic” ein, bis Anfang der 80er mit der billigen Videotechnik auch dieses “goldene” Zeitalter zu Ende geht.
Die schwedische Liberalisierung löste auch bei den dänischen Nachbarn eine Erotikwelle im Kino aus, so Jack Stevenson, Autor des jüngst erschienenen Kompendiums “Scandinavian Blue: The Erotic Cinema of Sweden and Denmark in the 1960s and 1970s” (Mcfarland & Co Inc, 2010) in seinem Vortrag. In der dänischen Filmindustrie war man allerdings deutlich toleranter gegenüber Regisseuren und Schauspielern, die ihre Zehen mal in den Porno-Teich dippten. Was dazu führte, dass eine Reihe anerkannter Charakter-Mimen auch in den Sexfilmen der Swinging Sixties auftauchten. 1969 wurde die dänische Bildzensur drastisch gelockert, wohl mit dem Hintergedanken, dass die “verbotenen Früchte” bald an Attraktivität einbüßen würden. Das Gegenteil war der Fall, der Pornografie wurde das Fluttor geöffnet. Nicht nur der Sexfilm erlebte einen Boom, auch das Nachtleben in “Swinging Copenhagen”: Zeitweise versorgten mehr als 20 Sex-Clubs täglich anreisende in- und ausländische Sextouristen mit ausgefallenen erotischen Attraktionen.
Inspiriert durch die schwedischen Filme, produzierten die Dänen zwar auch ihren Luft-und-Liebe-Film “Die Strandbiene“, versuchten sich aber schon vorher an Sex and Crime: “Mellem Venner” (1963) – im internationalen Verleihtitel deutlich reißerischer “Days of Sin and Nights of Nymphomania” betitelt – war ein Versuch des Ex-Piratensender-Diskjockeys Poul Nyrup, sich mit (vergleichsweise harmloser) Schilderung jugendlicher Gewalt und Sittenlosigkeit einen Namen zu machen. Künstlerisch und kommerziell erfolgreicher war der Nouvelle-Vague-angehauchte “Ich, eine Frau” (Marc Ahlberg, 1965), der eine Reihe von “Ich-Filmen” auslöste. Tatsächlich kann man zu dieser Zeit noch von erotisierten Dramen sprechen, während mit der Lockerung der Zensur die Ära der dänischen Sexploitation anbrach.
Als “schwedischer Film” besser zu vermarkten: “I, A Woman” (DK 1965)
Mit Anspruch, das bunte Treiben in dänischen Betten zu dokumentieren, wurde so mancher “Mondo-Film” ins Ausland verkauft und unterlief dort die Kontrollen der Sittenwächter. Tatsächlich war es der dänische “Dokumentarfilm” “Pornography in Denmark” (Michael Miller, 1970), der im März 1970 die Zensur von Pornografie in den USA beendete und damit die amerikanische Pornoindustrie legalisierte. In Dänemark dauerte die Phase erotischer Dekadenz noch bis in die frühen 70er Jahre an und trieb Blüten wie die “Bedside-Series” und “Astrological-Series”. Mit dem “Happy-Porno”, einer Mischung aus Sexfilm und Komödie näherte man sich noch einmal dem Mainstream, bevor auch der dänische Erotikfilm vor dem Home-Video in die Schmuddel-Kino-Ecke weichen musste.
Schwedens Erotik-Star Christina Lindberg (und Stellan SkarsgÃ¥rd) in “Anita” (SWE 1973)
Weder das schwedische noch das dänische Film-Establishment ist stolz auf ihre Sexploitation-Phase. Mithin wird dieses Filmerbe nur durch Enthusiasten wie Rickard Gramfors und Jack Stevenson lebendig gehalten. Eine breitere filmwissenschaftliche Aufarbeitung lässt noch auf sich warten. Interessant wäre doch zu wissen, ob die kurze, aber intensive Phase der skandinavischen Sexploitation in den 70er Jahren nicht doch mehr Einfluss auf Filmemacher hatte, als man bisher ahnte. So offen wie Quentin Tarantino hat sich zumindest kein Regisseur als Christina-Lindberg-Fan geoutet: Ihr Rache-Schocker “Thriller – A Cruel Film” (Bo Arne Vibenius, SWE 1974) ist eine der Blaupausen für Tarantinos Kill-Bill-Saga (USA 2003/2004).
Die unverklemmte Darstellung des Geschlechterverhältnisses in den schwedischen und dänischen Filmen der 50er und 60er hat allerdings definitiv zu einer weltweiten, sexuellen Liberalisierung über das Kino hinaus beigetragen. Die Retrospektive der NFL 2010 und insbesondere die Vorträge von Gramfors und Stevenson haben dies sehr eindrücklich und unterhaltsam in Erinnerung gebracht. (dakro)
Die unverklemmte Darstellung des Geschlechterverhältnisses in den schwedischen und dänischen Filmen der 50er und 60er hat allerdings definitiv zu einer weltweiten, sexuellen Liberalisierung über das Kino hinaus beigetragen. Die Retrospektive der NFL 2010 und insbesondere die Vorträge von Gramfors und Stevenson haben dies sehr eindrücklich und unterhaltsam in Erinnerung gebracht. (dakro)
Der “Klubb Super 8” ist zu finden unter http://klubbsuper8.com.
Eine Besprechung zu Jack Stevensons Buch “Scandinavian Blue” ist zu finden unter: www.brightlightsfilm.com/69/69booksblue_morris.php.