52. Nordische Filmtage Lübeck 2010
Vorwärts, rückwärts und nicht vergessen
Eindrücke vom Kurzfilmvormittag des Filmforums
„Einen Krimi mit nur sporadischer Informationsvergabe“ wollte Nele Hecht, gebürtig aus Schleswig-Holstein und Filmstudentin in London, zunächst drehen. Entstanden ist mit „Sparks“ dann aber ein Psychodrama en miniature. Was Aida und Nelson verbindet, wird nur angedeutet, es ist ein dunkles Geheimnis rund um eine Familie, die beim Brand eines Hauses ums Leben gekommen ist. Tragischer Unglücksfall oder sind die beiden darin als Täter und Opfer verstrickt? Beide sind entwurzelt und haben neben dem dunklen Geheimnis zumindest dies gemeinsam, Basis für eine zarte, in ihrer Ausprägung dennoch latent (auto-) aggressive Annäherung. Wie Funken flammt das Menschliche einer Verschwisterung immer kurz auf, verglüht aber ebenso schnell wieder. Nele Hecht zeigt dieses Hinundher aus Nähe und Distanz mit eindringlicher Kameraführung, die den Protagonisten mal auf die Haut rückt, sie dann wieder wie aus der Ferne einer Überwachungskamera feindselig-neugierig betrachtet.
Auch zwischen einem männlichen Aktmodell und einer Kunststudentin bleibt die Annäherung in der Schwebe. Karsten Wiesels erster Kurzspielfilm (nach diversen Dokumentarfilmen) verlegt den One-Night-Stand zwischen beiden in die mecklenburgische Provinz des Dörfchens „Raduhn“. Nähe scheint nur in der Ferne dieses abgelegenen Ortes möglich. Karsten Wiesels Einlassung, er habe sich in dem Kurzfilm mit der Frage beschäftigt, ob man einen jugendlichen One-Night-Stand mit dem verhinderten Techtelmechtel der beiden deutschen Staaten kurz nach der Wiedervereinigung vergleichen könne, erzeugt beim Kurzfilmvormittag des Filmforums manches Schmunzeln und ist vielleicht auch nicht ganz ernst gemeint. Gleichwohl verweist diese „Arbeitshypothese“ auf das grundsätzliche Problem von bleibender Fremde in einer mutwillig erzeugten Nähe. Ein Paradoxon, ohne dessen Erkenntnis man Liebe womöglich weder verstehen noch leben kann. Wiesel fügt noch weitere Archetypen solchen Auszugs aus dem Paradies hinzu, etwa den Apfel, den Eva Adam reicht. Manchmal wirkt solcher Symbolismus etwas aufdringlich und konstruiert, ebenso der x-te Versuch, Erotik filmisch einzufangen, ohne Kitsch zu erzeugen.
Humoristisch nimmt das Thema Nähe vs. Distanz, Antizipation vs. Geschichte der Lübecker Jonas Rothlaender in „Das Hemd“ aufs Korn. Auf der Hochzeit des jungen Markus taucht – nicht ganz zur Freude des Bräutigams – sein Vater Walter auf. Ein Alt-68er, der dem jungen Angepassten peinlich ist, nicht nur wegen seines Feinripp-Unterhemds, das unter dem weißen Smoking-Hemd sichtbar ist. Der Vater wird flugs auf die Toilette gebeten, um sich der peinlichen Bekleidung zu entledigen. Wo es freilich noch peinlicher wird, wenn alter und junger Mann in einem Klo-Schapp in womöglich verfänglicher Situation ertappt werden könnten. Eine witzige Vater-Sohn-Geschichte, erzählt mit minimalen Mitteln, gleichwohl umso eindringlicher. Und auch eine Parabel auf den Zeitgeist, dass die Alten manchmal jünger geblieben sind als ihre Sprößlinge früh gealtert und verbürgerlicht sind.
„Die Toten kehren zurück“ war das Motto einer Halloween-Party und Anregung für Florian Sailers Kurzfilmdebüt. Ein alter Hausmeister will schon als abendlich Letzter das Licht in der Turnhalle ausmachen, als eine junge Artistin um Einlass bittet. Bei ihrem „Letzten Auftritt“ turnt das geheimnisvolle Wesen, das ebenso plötzlich verschwindet, wie es gekommen ist, ein zauberhaftes Ballett am Trapez. Nur eine Fantasie des einsamen Hausmeisters, ein Traum? Sailer, jahrelang Filmvorführer bei den Nordischen Filmtagen, gelingt mit seinem Erstling ein feinfühliger Kinomoment, eine Studie über die Ewigkeit und das Flüchtige der Gegenwart, den allgegenwärtigen Zauber des Daseins, selbst wenn es vergangen ist oder gerade vergeht.
Um das Geheimnis des Daseins, den – im doppelten Wortsinn – Schwindel der Realität geht es auch in Jörn Staegers Experimentalfilm „Aufstehen / Vergessen“. Konsequent gefilmt mit einer eigens entwickelten „Körper-Kamera“, also einer Kamera, die am Protagonisten montiert ist und sich mit ihm bewegt, zeigt er das Hinfallen eines Mannes, dem es schwerfällt, wieder aufzustehen. Der gewöhnliche Vorgang des Aufstehens aus dem „Gefallenen“ zum „aufrechten Gang“ gerät so zu einer kafkaesken Achterbahnfahrt an der Grenze von Leben und Tod. Wie schon in früheren Filmen (etwa „Reise zum Wald“) erzeugt Staeger auch auf der Tonebene durch Sound-Verfremdungen eine surreale Stimmung mitten im eben nur vermeintlich „ganz Normalen“. Der beindruckendste Kurzfilm des Filmforums, der den Zuschauer auf seine eigene labile Körperlichkeit zurückwirft.
Meike Fehre zeichnet in ihrem Animationskurzfilm „Frida & die Zeit vor mir“ das Porträt ihrer Urgroßmutter, die, geboren 1883, 1974 starb, in dem Jahr, als Fehre geboren wurde. Sie begleitet die eigensinnige Uroma durch ein bewegtes Leben, indem sie Dokumente wie Fotos, Postkarten und historische Stadtansichten in einer Art Papiertheater animiert. Es entsteht so auch ein Porträt einer Epoche, längst vergangen und uns dennoch immer noch seltsam „verwandt“.
Durchaus auch skurril – so skurril wie die Geschichte des Ukrainers Herrn Pilipenko. Dessen absurden Plan, ein eigenes U-Boot zu bauen, hatte René Harder (damals zusammen mit Jan Hinrik Drevs) bereits 2006 dokumentiert und auf den 48. Nordischen Filmtagen im Filmforum gezeigt. Nach überaus erfolgreicher Festivaltour wurde „Herr Pilipenko und sein U-Boot“ im Sommer 2008 erstmals am Ort seines Entstehens gezeigt, im ukrainischen Dorf Jewgeniwka, wo Herr Pilipenko nach wie vor lebt. „Herr Pilipenko und der rote Teppich“, zeigt das Dorf und die Protagonisten um den schrägen U-Boot-Hobbyisten auf dem roten Teppich vor dem zum Kino umfunktionierten örtlichen Kulturzentrum. Pilipenko hat das U-Boot gewinnbringend an einen Journalisten verkauft, der es nun weiter ausbauen will, während er selbst bereits an einem Tieftauchboot in Eigenbau werkelt: „Ich habe meine Reise in die Ferne noch nicht zuende gebracht, deshalb lässt mir das keine Ruhe.“ Das Dorf freut sich über seinen berühmt gewordenen Sohn, allein, die Film-Crew aus Deutschland habe damals „nicht gerade die schönsten Hinterhöfe abgelichtet“. Das wird jetzt nachgeholt – mit staubigem Glamour mitten in einem Niemandsland des Films wie von Tauchbooten. (jm)
- „Sparks“, Deutschland 2010, 20 Min., Regie: Nele Hecht, Drehbuch: Luke Norris
- „Raduhn“, Deutschland 2010, 12 Min., Drehbuch, Regie: Karsten Wiesel, Rollen: Mirco Kreibich, Jytte-Merle Böhrnsen
- „Das Hemd“, Deutschland 2010, 6 Min., Regie: Jonas Rothlaender, Drehbuch: Sebastian Bleyl, Jonas Rothlaender, Rollen: Johannes Allmayer, Michael Schweighöfer
- „Der letzte Auftritt“, Deutschland 2010, 8 Min., Drehbuch, Regie: Florian Sailer, Rollen: Samira Reddmann, Ulrich Voss
- „Aufstehen / Vergessen“, Deutschland 2010, 6 Min., Drehbuch, Regie: Jörn Staeger
- „Frida & die Zeit vor mir“, Deutschland 2009, 8 Min., Regie: Meike Fehre, Drehbuch: Meike Fehre, Lars Dahms
- „Herr Pilipenko und der rote Teppich“, Deutschland 2009, 16 Min., Drehbuch, Regie: René Harder