Sielmanns hinschauendes Erbe

50 Jahre „Expeditionen ins Tierreich“

„Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket: Mit den Augen zu seh’n, was vor den Augen dir lieget“, wusste schon Goethe. Heinz Sielmann hat genau das vor 50 Jahren erstmals vor sein Kameraauge genommen: das Tier, unseren seit der Schöpfung Genossen, dem Menschen so ähnlich und doch so fremd. Tierfilmer Sielmann unternahm immer wieder „Expeditionen ins Tierreich“ und schuf damit seit 1960 eine Erfolgsserie des NDR.
Was heute in TV-Nachmittagsserien wie „Tiger, Elefant und Co.“ als anthropozentrische Unterhaltung, mit den Zootieren als Adressaten für unsere Niedlichkeits- und mit dem Tier vermeintlich vergemeinschaftete Anwandlung, als zweifelhaftes Abbauprodukt des Tierfilms daherkommt, bewahrte in Sielmanns Kamerablick noch die Würde des Tiers. Ein jedes, noch so exotische Wesen bleibt in den „Expeditionen ins Tierreich“ eigenständig, in seinem Lebensraum, -wandel und manchmal grausamen Kampf um sein Dasein ein „Selbst“, nicht bloß Schauobjekt für menschliche (Zuschau-) Bedürfnisse.
„Was uns das Leichteste dünket“, ist doch das Schwerste: Unsere Mitschöpfung nicht bloß als Material für unsere Vorstellung, wenn nicht für unseren Fresshunger und unseren willfährigen Zugriff auf sie zu begreifen. Vielmehr als Wesenheit, der wir Raum geben müssen, jenseits und damit erst diesseits von uns. Dass der Mensch keineswegs die Krönung, vielleicht nur ein naheliegender, geradezu kabarettistischer Einfall der Schöpfung wie der Evolution ist, zeigten uns Sielmanns Expeditionen in Welten, die so fremd sind, wie er sie uns nahe brachte: Das Tier, das mehr als wir „natürlich“ ist, eingebunden in ein geschöpftes Ökosystem, ihm optimal angepasst, es akzeptierend, es nicht verheerend, es nicht um- und zerstörerisch zerformend wie wir.
Wie Sielmann und seine Erben das Tier sahen – in seiner sich selbst überlassenen Ferne nah -, zeigt die Jubiläums-Doku des NDR. Im Zoo der Kamera: Zukünftige Tierfilmer, die sich als Kinder von Sielmann begeistern ließen. „Meine lieben Zuschauer“, schickte Sielmann jeder Erklärung der geheimnisvollen Wesen voran. Am Anfang, 1960 bis 1973 immer wieder, standen heimische Spechte und ihr Paarungs- und „Kinderstuben“-Verhalten. Sielmann brachte Scheiben vor die Nester, durch die die Kamera zuschauen konnte, ein Novum im Tierfilm. Konrad Lorenz, der Papst der Verhaltensforschung, war begeistert. Bald folgten fernere Gefilde, wo es tierte und lebendig war, wie kaum im deutschen Heimtierdschungel. Die Serengeti zog Sielmann – und uns – in ihren Bann. Überhaupt, Bann: Sielmann verhehlte in seinen Expeditionen nie seine Begeisterung, teilte sie mit, mit der typischen, etwas atemlos stockenden, artifiziellen Kommentatorstimme.
Unglaublich, noch in den 70ern, die Gorillas: Neuland für die Tierfilmer, aber auch für die Wissenschaft. Mit den Walen war es in den 80ern nicht anders: Ein neugeborenes Pottwal-Baby schwimmt auf die Kamera zu. Aufnahmen, die so nie wieder gemacht wurden, TV- und Tierfilmhistorie. Wölfe, beobachtet in ihrem Sozialsystem, ein Plädoyer für eine bedrohte Art und nicht zuletzt Tiergesellschaft in ihrem Innersten. Das Wattenmeer und seine Bewohner: Dokument für seine Bedrohung und Appell für seine Erhaltung.
Sielmann filmt unermüdlich und will damit nicht nur seine Tierfilmbilder bewahren, sondern vor allem das, was ihm vor die Kamera kam. Aus dem Filmer wird ein engagierter Tier- und Naturschützer, der uns zeigt, wie die Einmaligkeit seiner Bilder vor allem die Bedrohtheit des Gezeigten zeigt. All diese nahen, intensiven Tierbilder könnten immer auch die letzten ihrer Art sein. Berückend die Bilder aus der Kinderstube der Füchse – wie lange wird man derlei noch filmen können? Oder die Braunbärenkinder, in ihrer Jugend schon vom Aussterben bedroht.
Sielmann und seine filmischen Erben der „Expeditionen ins Tierreich“ sind immer auch Filmer einer von zukünftiger Vergangenheit bedrohten Gegenwart. Das Leben ist schütter, sein Tod zeichnet sich ihm schon ein. Und der Appell, dieses Geschehen, diesen Tod zu verhindern.
Vielleicht ist das Sielmanns wirkliches Erbe, dass wir uns gerade nach 50 Jahren „Expeditionen ins Tierreich“ noch mehr bemühen und erinnern müssen, dass das keine Bilder aus der Vergangenheit werden. Dass wir Menschen begreifen, wie zerbrechlich auch unsere eigene Schöpfung ist, und also einmal mehr hinschauen auf unsere Mitgeschöpften, die Tiere, die Pflanzen, auf unsere uns vom Schöpfer anvertraute Natur. (jm)
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