14. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide

Verlorenes Paradies

„Milltown, Montana“ (Rainer Komers, D 2010)

Einst lag Milltown im Zentrum des größten Tage- und Bergbaugebietes der USA. Heute scheint dort die Zeit still zu stehen, vom einstigen Kupfer-Eldorado zeugen nur noch klaffende Wunden in der beeindruckenden Landschaft. Rainer Komers („Kobe“, D 2006) seziert in seinem Dokumentarfilm „Milltown, Montana“ ein verlorenes Paradies und die Folgen ungebremsten Raubbaus für Mensch und Natur. „Take a deep breath“, scheint Komers den Zuschauer zu warnen, die erste Einstellung zeigt eine Lungenuntersuchung. Aus zahlreichen unkommentierten, fotografisch klaren Einstellungen webt Komers das Bild einer Goldgräberstadt nach dem Goldrausch. Leere Stollen, in denen sich giftig-grünes Wasser sammelt, verlassene Erzaufbereitungsanlagen und Sägewerke. Ein Nachzucken der industriellen Aktivität nur noch bei den Schwertransportern und Schaufelbaggern, die den mit Schwermetallen verseuchten Abraum, wohin auch immer, fortschaffen. Junge Bergbauleute halten sich mit Wettbewerben fit, doch tatsächlich wartet wohl nur noch eine Partie Billard im örtlichen Saloon als Herausforderung auf sie. Erleichtert ist der Bergbauarbeiter, der bei der Lungenuntersuchung einen negativen Befund hat: kein Staub in der Lunge. Eine Zukunft haben – scheinbar verkehrte Welt – Berufe, die näher an der Natur sind: Pelztierjäger, Kürschner und Cowboys, ur-amerikanisches Symbol für die Freiheit des Einzelnen. Ironischerweise sind die Rinderhüter Insassen aus dem nahe gelegenen Montana State Prison.
Komers hat seine sehr spezifische Handschrift zur Meisterschaft entwickelt. Jede Szene seines Filmes ist eine Vignette, eine geschlossene Einheit, die durch interessante Beobachtungen, fotografisch geschulte Kadrierung und sorgfältigste Tonaufzeichnung fasziniert. Sich der Aussage und Kraft seiner Bilder bewusst, verzichtet Komers nicht nur auf Kommentar und Musik, sondern verlässt sich auf einen ungeschnittenen, synchronen Originalton. Ergo gewinnt der Rhythmus in Bild und Ton eine Bedeutung, die man heutzutage in vielen filmischen Arbeiten vermisst. Die Anordnung der einzelnen Szenen ordnet Komers kontrastierenden oder assoziierenden Gestaltungsprinzipien unter. Der Film springt vom Draußen ins Drinnen, vom Leisen zum Lauten. Der meterlange Bohrmeißel der Bergleute verwandelt sich eine Einstellung später in den Billardstock der Pensionäre. In erzählerischen Ellipsen bringt Komers einzelne Szenen zur Auflösung, etwa wenn sich die eingangs erwähnte Lungenuntersuchung als fatales Nachspiel eines Bergarbeiterlebens entpuppt.
Zum zweiten Mal nach „Nome Road System“ (D 2004) nimmt Rainer Komers verdient einen Preis von der Augenweide mit nach Hause. Es wäre schön, wenn „Milltown, Montana“ wie auch die anderen Filme seines ErdBewegungs-Zyklus auf Filmkopien im Kino zu sehen wären. Denn vor allem auf der großen Leinwand entfalten sie ihre volle Wirkung. (dakro)
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