60. Internationale Filmfestspiele Berlin

Keep it up, Dieter?

Ein persönlicher Berlinale-Kommentar von Helmut Schulzeck

Die Berlinale wird immer populärer; immer mehr Besucher strömen in die rund 30 Festivalkinos und -abspielstätten, 11 Tage von morgens bis in die Nacht. 2010 gab es einen Zuwachs von rund 10 Prozent an zahlendem Publikum. Mit rund 300.000 verkauften Eintrittskarten wurde eine Schallmauer durchbrochen. Dazu kommen nahezu 20.000 akkreditierte Fachbesucher aus 122 Ländern inklusive 4.000 Journalisten, die schon ab 9 Uhr morgens in die Pressevorführungen drängen. 392 Filme wurden in 834 Vorführungen gezeigt. Und das Festival expandiert weiter. Immer neue Reihen werden von Festivaldirektor Dieter Kosslick ins Leben gerufen. Dieses Jahr wollte man mit “Berlinale goes Kiez” die Stadtteile mehr ins Festival einbeziehen und zeigte dort eine Reihe von Berlinale-Filmen in den lokalen Programmkinos.
Schon ab 5 Uhr morgens warten tagtäglich die Fans auf die Öffnung der Kassen um 9 Uhr. (Foto: H. Schulzeck)

Neben den traditionellen Programmsektionen Wettbewerb, Forum und Panorama sowie Retrospektive, Hommage, “German Cinema” hat sich das ursprüngliche Kinderfilmprogramm zum größeren “Generation plus14” gemausert. Die Kurzfilme, die früher immer vor den Hauptfilmen liefen, bilden mit “Berlinale Shorts” schon seit einigen Jahren einen eigenen separaten Programmteil. Seit 8 Jahren gibt es auch schon die “Perspektive Deutsches Kino”, die jungen Nachwuchsfilmern eine Bühne bietet. Zum vierten Mal konnten sich Besucher beim “Kulinarischen Kino” nach besonderen Filmen mit internationalen Speisen verwöhnendem lassen. Mit 22 Filmen ist auch “Berlinale Special” inzwischen eine eigene große Sektion geworden. Nicht zu schweigen von der Filmmesse “European Filmmarket” im Gropiusbau, die für über 6.000 Fachbesucher auch noch etliche Messekinos bespielt (660 Filme in 1.014 Vorführungen), und dem “Berlinale Talent Campus”, bei dem über 150 internationale Filmexperten in über 100 Veranstaltungen für 6 Tage eine Filmhochschule für junge Filmschaffende aus aller Welt aufziehen.

Diese Aufzählung ist nicht vollständig, zeigt aber, dass dieses weltweit größte Publikumsfestival schon seit langem aus allen Nähten zu platzen droht. Längst hat man selbst als Fachbesucher den Überblick verloren. Da helfen auch informative Programmhefte, dicke Kataloge und Tagesjournale, auf neudeutsch “Dailys” genannt, nur bedingt weiter (früher gab es täglich ein offizielles “Berlinale Journal”, heute gibt es jeden Tag fast ein halbes Dutzend Postillen von Variety und Konsorten). Eine befreundete Journalistin (den Namen verrate ich lieber nicht) hatte schon im Vorfeld auf Pressevorführungen und DVDs rund 120 Filme gesehen. Herzliches Beileid. Schon längst habe ich mir abgewöhnt, abends auf irgendwelchen drängend dringlichen Empfängen herumzuhängen, um mir von fast allen erzählen zu lassen, wie wichtig sie sind. Sonst käme ich nicht rechtzeitig morgens in der Früh aus dem Bett, um pünktlich zur ersten Pressevorführung vorm Berlinale-Palast auf der angeschneiten Matte zu stehen. Drei bis vier Filme am Tag sind Pflicht für den eifrigen Berlinale-Besucher; manchmal werden es sogar fünf, was dann allerdings die Gefahr mit sich bringt, im Kino einzuschlafen. Oder man pennt auf der Heimfahrt in der S-Bahn ein, wie es einem Kieler Kollegen passiert ist, und muss dann von der Endstation zurückfahren.
Aber das ist Kosslick egal. Er mästet uns weiterhin mit Kinematografie. Wo hin das führen soll, weiß keiner. Der Wettbewerb jedenfalls leidet in seiner Qualität. Die großen Namen gehen lieber nach Cannes oder Venedig. Michael Winterbottom und die Altmeister Polanski und Scorcese mussten diesmal die Fahnen hochhalten. Eine Berliner Zeitung schrieb über das Wettbewerbsniveau, es sei dem von Locarno und im nationalen Bereich dem von Saarbrücken vergleichbar. Das ist sicherlich zu hart. Aber manchmal hat man schon den Eindruck, es gehe mehr um Masse als um Klasse, und dass man sich in Berlin vor allem mit diversen deutschen Produktionen tröste oder was man alles so deutsch nennt. 84 Deutsche Filme oder Filme mit deutscher Beteiligung (wie es die offizielle Berlinale-Statistik in Klammern verschämt nennt) liefen heuer auf der Berlinale. Dabei auch der Cannes-Film und Oscar-Kandidat “Das weiße Band” von Michael Haneke (in der Reihe “German Cinema”), der ja eigentlich ein österreichischer Film ist, aber mit deutschem Geld gefördert wurde (u.a. 1,666 Mio. Euro vom DFFF). Auch Polanskis Berlinale Wettbewerbsteilnehmer “The Ghost Writer” ist so gesehen ein deutscher Film und wurde in der Statistik als solcher mitgezählt. Die Handlung spielt zwar in den USA und Polanski lebt, wenn er nicht gerade in der Schweiz inhaftiert ist, in Frankreich. Aber der Film hat reichlich deutsches Fördergeld genossen (u.a. 3,54 Mio. Euro vom DFFF) und ist auf Sylt und Usedom gedreht worden. Der viel beachtete iranische Wettbewerbsbeitrag “Shekarchi” (“Zeit des Zorns”) von Rafi Pitts war auch so ein deutscher Beteiligungsfilm (ZDF) und natürlich auch der Gewinner des Goldenen Bären, der türkische Film “Bal” (“Honig”) von Senith KaplanoÄŸlu. Insgesamt waren sieben von zwanzig Wettbewerbsbeiträgen deutsche Produktion oder Co-Produktionen.
Vielleicht sollte Kosslick im Zenit seines Schaffens seinen Hut nehmen, so lange er noch so beliebt ist. Denn die Kritik wird lauter werden, dass ist so sicher wie die Digitalisierung des Kinos. Vielleicht sollte sich die Berlinale vom Wettbewerb verabschieden, in dem doch jedes Jahr mehr mäßige Filme von den eigentlich sehr sehenswerten Entdeckungen in den anderen Programmteilen ablenken. Sicherlich ein unmögliches Ansinnen. Aber die diesjährige Retrospektive, in der 38 Klassiker aus 60 Berlinale-Jahren unter dem Motto “Play it Again”¦!” versammelt waren, stimmte doch nachdenklich. “Ikuru” (1952) von Kurosawa, “La Notte” (1960/61) von Fellini, “The Thin Red Line” (1997/98) von Malick: Gibt es solche Meisterwerke heute nicht mehr für die Berlinale? (Helmut Schulzeck)
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