60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Wettbewerb
Kasse statt Gewissen
„Jud Süß – Film ohne Gewissen“ (Oskar Roehler, Österreich, Deutschland 2010)
Eigentlich müsste man so einen Film, der ja berechtigterweise fast schon von der gesamten deutschen Kritik verrissen wurde, mit Nichtbeachtung strafen. Denn bekanntlich ist es ja gestohlene Lebenszeit, wenn man einen schlechten Film sieht. Doch wie alle anderen konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mir den neuen Film von Oskar Roehler „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ anzuschauen und zu besprechen. Schon der merkwürdige Titel und der Regisseur bürgen für ein Skandälchen und Misslingen. Kann ein Film ein Gewissen haben? Sicherlich nicht. Aber er kann darauf spekulieren, dass er durch provozierende Machart auffällt und Kasse macht.
An sich bietet das Thema um die Verfilmung des von Veit Harlan 1940 gedrehten Propaganda-Spielfilms „Jud Süß“ einen interessanten Stoff. Goebbels gab ihn in Auftrag, um endlich einen großen, massenwirksamen antisemitischen Film dem deutschen Publikum daheim und an der Front präsentieren zu können. Dabei wurde die historische Figur des Joseph Süß Oppenheimer aus dem 18. Jahrhundert als Projektionsfläche für die antisemitischen Schuldbefunde genutzt. Der Film stellt gemäß Goebbels’ Intention den jüdischen Bankier und Finanzbeamten Opppenheimer als Bedrohung für die Gesellschaft dar, der unter anderem seinem Herzog zur gewaltsamen Niederschlagung der „arischen“ Stände rät und eine Frau aus ihren Reihen vergewaltigt. Geschichtsfälschend und volksverhetzend wird in der Titelperson eine infame Figur gezeichnet, die aber auch Opfer ihrer eigenen Identität ist, weil sie ja perfiderweise als Jude sich gar nicht anders verhalten kann als sie es tut. Am Ende steht die Hinrichtung eines um sein Leben flehenden Oppenheimers.
Roehlers Film widmet sich nun dem Schicksal von Ferdinand Marian (Tobias Moretti), der von Goebbels (Moritz Bleibtreu) für die Titelrolle ausgesucht wird, obwohl er sich heftig sträubt. Marian wird als ein von der Macht Verführter gezeichnet, der später daran zu Grunde gehen wird. Dabei scheint Roehler nicht gewusst zu haben, was er wollte. Der Film pendelt unentschieden zwischen Drama und Satire hin und her, flüchtet sich ins verlogene Melodram. Drehbuchautor Klaus Richter behauptete auf der Berlinale-Pressekonferenz, Personen und Stoff Wahrhaftigkeit widerfahren zu lassen. Doch kann man dieser Beteuerung wenig Glauben schenken. Auch der Film über die Verfilmung von „Jud Süß“ fälscht die Geschichte und zwar nicht nur in randständigen Details, sondern in wichtigen Punkten. Um Marian in seiner Opferrolle noch glaubhafter zu etablieren, ist seine Frau jüdischer Herkunft (er wird dadurch für Goebbels erpressbar). Außerdem bekommt er einen jüdischen Schauspielerfreund (Heribert Sasse), den er auf seinem Anwesen als Gärtner versteckt. Beides ist freie Erfindung, genauso wie Marians Selbstmord am Ende, bei dem er alleine im PKW sitzend gegen einen Baum rast. Marian starb 1946 bei einem Autounfall, den zwei Mitfahrer überlebten. Genauso wenig hat er persönlich Juden im Ghetto für die Dreharbeiten ausgesucht. Auch war seine Karriere nach dieser Rolle keineswegs zu Ende, wie Roehler uns weismachen will. Er spielte noch bis 1945 in elf weiteren Spielfilmen, darunter in Käutners „Romanze in Moll“.
Tobias Moretti als Marian und Moritz Bleibtreu als Goebbels (Foto: Berlinale)
Zwiespältig auch die Konzeption der Protagonisten. Während Moretti sich ernsthaft und glaubwürdig der zerrissenen Figur des Marian anverwandelt, gibt Bleibtreu als Goebbels die rheinische Knallcharge (das kann er wohl am besten), der seinen Schauspielern und Regisseuren am liebsten kumpelhaft auf die Schulter klopft, mit den Händen herumfuchtelt und ihnen einen ausgibt. Nachdem Marians Frau (Martina Gedeck) für die weitere Handlung nicht mehr gebraucht wird, verschwindet sie sang- und klanglos im letzten Drittel des Films im KZ; ist vergast worden, wie es beiläufig heißt, was natürlich beides nicht stimmt, aber Marian erlaubt, sich mit einer tschechischen Geliebten (Erika Maroszán) zu trösten. Alle Nazis sind natürlich abgrundtief böse, sogar das BDM-Mädel, das als bei Marian spionierende Haushaltshilfe natürlich Goebbels persönlich Bericht erstatten kann und ihm auch unter seinem Schreibtisch zu Diensten ist. Die Juden werden als folkloristische Staffage eingesetzt, feiern als Statisten nach Drehschluss mit Wein und Gesang ihr Schicksal. Gundrun Landgrebe hat als Frau des KZ-Chargen Frowein einen illustren Gastauftritt. Marian fällt von hinten während eines Bombenangriffs in Berlin am offenen Fenster über sie her, darf seine Rolle des wollüstigen Juden geben.
So versucht Roehler sein Publikum zu amüsieren, reiht Anekdötchen – das beste ist das mit Hans Moser (Johannes Silberschneider), der Marian für einen Juden hält und ihn bittet, bei Goebbels ein gutes Wort für seine jüdische Frau einzulegen -, Stereotypen und Klischees aneinander. Roehler hält das wohl für großes deutsches Kino. Ganz traditionell wird Geschichte verfälscht und dann im Presseheft-Interview behauptet, sich analytisch und objektiv damit auseinander zu setzen. Wieder ein Film ohne Gewissen – wenn es den denn gäbe. (Helmut Schulzeck)
„Jud Süß – Film ohne Gewissen“, Österreich, Deutschland 2010, 114 Min., 35 mm, Regie: Oskar Roehler, Buch: Klaus Richter, Oskar Roehler, Kamera: Carl F. Koschnick, Ton: William Frank, Schnitt: Bettina Böhler, Darsteller: Tobias Moretti, Moritz Bleibtreu, Martina Gedeck, Justus von Dohnanyi, Heribert Sasse, Armin Rohde, Milan Peschel, Gudrun Landgrebe u.a., Filmförderung: Filmförderungsanstalt (FFA) (Berlin), FilmFernsehFonds Bayern GmbH (FFFB) (München), Deutscher Filmförderfonds (DFFF) (Berlin), Filmstiftung Nordrhein-Westfalen GmbH (Düsseldorf), Österreichisches Filminstitut (ÖFI) (Wien), ORF Film/Fernsehabkommen (Wien), Filmfonds Wien (Wien), Land Niederösterreich (St. Pölten).