60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Wettbewerb
Tradition und Moderne
„Otouto“ und „Kyoto Story“ (Yoji Yamada, JAP 2010)
Seit dem Beginn seiner ungewöhnlich naturalistischen, aber erfolgreichen Samurai-Triologie mit „The Twilight Samurai“ (JAP 2002) ist der japanische Altmeister Yoji Yamada regelmäßig im Wettbewerb der Berlinale zu finden: 2005 mit dem zweiten Teil „The Hidden Blade“, 2006 mit dem dritten Teil der Triologie „Love and Honor“ sowie 2008 mit dem Kriegsdrama „Kabei“. In diesem Jahr wurde Yamada nicht nur die Berlinale Kamera für sein Lebenswerk verliehen, sondern sein neuester Film, das sensible Familiendrama „Otouto“ (JAP 2010), schloss außer Konkurrenz den Wettbewerb ab. Darüber hinaus war Yamada mit einem weiteren Film im Forum vertreten: „Kyoto Story“ (JAP 2010), einer Co-Regiearbeit mit seinem langjährigen Assistenten Tsutomu Abe, umgesetzt mit japanischen Filmstudenten. Der 78jährige Yamada bleibt mit diesen Filmen weiterhin auf höchstem Qualitätsniveau und kehrt inhaltlich in die japanische Gegenwart zurück.
In einem denkbar unspektakulären Wohnviertel am Rande Tokyos entwickelt Yoji Yamada sein mit feinem Humor durchzogenes Familiendrama „Otouto / About Her Brother“. Als allein erziehende Mutter hat die Witwe Ginko ihre Tochter Koharu groß gezogen. Mit ihrer kleinen Apotheke ernährt sie sich, Tochter und Schwiegermutter. Mit gleichzeitigem Bedauern gratulieren die Nachbarn Koharu zur bevorstehenden Hochzeit mit einem jungen Arzt, denn die junge Frau wird Mutter und die kleine Apotheke und das Viertel verlassen. Auf der Hochzeitsfeier taucht unerwartet Ginkos jüngerer Bruder Tetsuro, ein erfolgloser Sänger und Schauspieler, auf. Wie befürchtet ruiniert Tetsuro, das erklärte schwarze Schaf der Familie, die Hochzeitsfeier durch seine betrunkenen Späße. Ginko muss sich bei den Eltern des Bräutigams für ihren Bruder entschuldigen. Doch es bleibt nicht bei dieser Demütigung. Tetsuro hat Spielschulden, eine Ehrenschuld für die Ginko aufkommt, auch wenn sie dafür ihre finanziellen Rücklagen opfert. Es kommt zu einem schweren Streit zwischen den Geschwistern, Tetsuro verschwindet spurlos. Monate später erreicht Ginko die Nachricht, Tetsuro liege in Osaka im Hospiz. Sie macht sich auf den Weg an das Sterbebebett ihres an Magenkrebs erkrankten Bruders.
Riskiert wegen ihrer Treue zu ihrem Bruder einen Familienzwist: Koharu (Yu Aoi) (Foto: Berlinale)
Yamada konstruiert eine sehr nachvollziehbare Familiengeschichte, in deren Rahmen er die Grenzen von Fürsorge und Verantwortung, Schuld und Versöhnung ausloten kann. Während das Aufziehen der Tochter so selbstverständlich erscheint, dass die Tochter vor der Hochzeit zur Danksagung an die Mutter ermahnt werden muss, ist die Fürsorge für den jüngsten Bruder eine Entscheidung Ginkos, die die Familie nicht nachvollziehen kann. Anders als ihr wohlsituierter älterer Bruder sieht sie eine Schuld gegenüber dem stets zu kurz gekommenen jüngeren Bruder, der sich zeitlebens vergeblich bemüht hat, auf eigenen Füßen zu stehen. Mit der Übernahme von Tetsuros Spielschulden befreit sie sich ein stückweit von dieser familiären Schuld. Doch das allein erklärt nicht ihre Bereitschaft, dem Bruder immer wieder zu verzeihen und sich um ihn zu kümmern. Ginko verkörpert ein humanistisches Ideal, nach dem die Würde des Menschen und der Respekt vor seinem Leben das höchste Gut ist. Yamada thematisiert ganz nebenbei, wie schwierig ein Sterben in Würde in der heutigen Gesellschaft sein kann. Tetsuro liegt in einem Hospiz für die Ärmsten. Nur dem Engagement der idealistischen Betreiber ist es zu verdanken, dass er dort eine familiäre Atmosphäre und die nötige medizinische Versorgung vorfindet.
Was die Figur des Tetsuro für Yamada interessant macht, ist die Konsequenz, mit der er seinen Traum vom Ruhm als Komödiant verfolgt und dabei stets aufs Neue riskiert, sich zum unfreiwilligen Narren zu machen. Yamada wird in seiner langen Karriere auch das Scheitern von Schauspielerträumen erlebt haben: „Ich stand schon immer auf Seiten der Verlierer. Ich erzählte gerne von Menschen, die es im Konkurrenzkampf nicht nach oben geschafft haben.“
„Bei Shochiku lernte ich, worauf es ankommt: Beobachtungsgabe und Humor“: Yoji Yamada bei der Pressekonferenz zu „Otuoto“ (Foto: Berlinale)
Eine ähnliche Figur schrieb Yamada auch in sein Drehbuch zu „Kyoto Story“, einem Projekt dass er mit Studenten der Ritsumeikan Universität realisierte. Yanase, der Sohn des Tofuherstellers in der Daiei Shopping Street in Kyoto, bewirbt sich bislang erfolglos als Stand-Up-Comedian bei den lokalen Fernsehstudios. Seine Freundin Higashide, Tochter des örtlichen Wäschereibesitzers, arbeitet als Bibliothekarin in der nahen Universität. Yanase ist fixiert auf seine stockenden Karriereträume, darunter leidet die Beziehung zu Higashide. Als sich ein junger Dozent in Higashide verliebt und sie bittet, mit ihm nach Peking zu gehen, muss sich die junge Frau nicht nur zwischen den beiden Männern entscheiden, sondern auch zwischen ihrer Heimat Kyoto und dem Verlassen des Viertels.
Zwischen Heimat und Aufbruch: Higashide (Hana Ebise) (Foto: Berlinale)
2007 gründetete die Universität in Kollaboration mit dem japanischen Traditions-Filmstudio Shochiku das College of Image Arts and Science. Yamada, der seine Karriere bei Shochiku begann und dort u.a. knapp 50 Filme der in Japan äußerst populären „Tora-San“-Reihe schrieb und inszenierte, ist Gastprofessor an der Ritsumeikan Universität. Für ihn erfüllt sich damit der Wunsch, sein Können und seine Erfahrungen an die nachwachsende Generation japanischer Filmemacher weiterzugeben. „Kyoto Story“ thematisiert die Tradition der japanischen Filmindustrie sowie die Notwendigkeit beständiger urbaner Veränderung geschickt, indem Interviews mit den tatsächlichen Anwohnern und Betreibern der kleinen Läden in der Daiei Shopping Street in die Handlung eingeflochten werden. In der unmittelbaren Nachbarschaft befanden sich die legendären Daiei-Studios, in denen Akira Kurosawa „Rashomon“ (JAP 1950) und Kenji Mizoguchi „Ugetsu“ (JAP 1953), zwei Meisterwerke des japanischen Films, drehten. Die Schließung des Studiokomplexes war für die Bewohner des Viertels ein harter Schlag, hatten doch viele Jobs in den Studios oder verkauften den Filmemachern ihre Waren. Dass das Überleben einer städtischen Mikrogesellschaft mit ihren unersetzbaren sozialen und familiären Strukturen von der bewussten Entscheidung gerade der jungen Generation abhängt, ist Yamadas Botschaft, die seine beiden aktuellen Filme verbindet.
Dass Yamada fest verwurzelt in der Tradition japanischer Filmemacher wie Ozu und Kurosawa steht, konnte man in der Retrospektive anhand von „Ikiru“ (Akira Kurosawa, JAP 1952) überprüfen. Wunderbar übrigens, wie dieses Jahr die alten Filme mit den aktuellen korrespondierten. Kurosawas an Magenkrebs erkrankter Held findet erst unter dem Druck des nahenden Todes einen Sinn für sein sozial und familiär entfremdetes Leben: den Bau eines Parks in einem kleinen Viertel Tokyos. Yoji Yamada sucht und findet die Relevanz eines humanistischen Kinos in unserer Gegenwart. Dass seine Filme dabei äußerst zugänglich sind und den Zuschauer berühren, mag auch an seinem Credo liegen: „Menschen beobachten, diese Beobachtungen reflektieren und sie dann in den Film einfließen lassen, das ist die Aufgabe des Regisseurs. Wenn die Zuschauer den Film dann sehen, können Sie mit den Figuren fühlen, weil sie sich selbst darin erkennen.“ (dakro)
„Otouto“, Japan 2010, 126 Min., 35mm, Buch: Yoji Yamada, Emiko Hiramatsu, Regie: Yoji Yamada, Kamera: Masashi Chikamori, Schnitt: Iwao Ishi, Ton: Kazumi Kishida, Darsteller: Sayuri Yoshinaga, Tsurube Shofukutei, Yu Aoi, Ryo Kase u.a.
„Kyoto Uzumasa Monogatari / Kyoto Story“, Japan 2010, 90 Min., 35mm, Buch: Yoji Yamada, Regie: Yoji Yamada, Tsutomu Abe, Kamera: Chikamori Masashi, Darsteller: Higashide Kyoko, Yanase Kota, Enoki Daichi.