Chaos no Dzikim Wschodzie – Chaos im Wilden Osten

Die Kieler Filmgruppe Chaos reiste mit einem Filmprogramm nach Polen und Weißrussland

Unsere erste Reise in den ehemaligen Ostblock erfüllte Erwartungen voller Klischees. Nach frühlingshaftem Wetter in Norddeutschland empfing uns Polen mit Schneegestöber, und aus dem Autoradio begrüßte uns Radio Maria. In Bialystok in Ostpolen sprach uns in einem Café ein Arzt an, der nach vielen Jahren Arbeit im Ausland in seine Heimat zurückgekehrt war und erwartet hatte, sein Land sei nach seiner Abkehr vom Sozialismus ein freieres Land geworden. Das Gegenteil sei aber der Fall, Politiker hetzten jetzt sogar im Fernsehen gegen Schwule. In diesem Polen wolle er nicht länger bleiben, er plane, sich wieder Arbeit in einem anderen Land zu suchen.
Filmgruppe Chaos zu Gast beim Kino Forum in Bialystok (Fotos: Karsten Weber)
Unsere Gastgeber vom Kino Forum hatten Erfahrung mit dem Auftun von Geldern aus europäischen Töpfen. Für uns organisierten sie ein Double-Feature mit einer Gruppe aus Lodz. „Relenium“ ist der Name eines Antidepressivums, und dieses Medikament ist der Namensgeber des Lodzer Independent-Filmfestivals. So war es eine Mischung aus den Greatest Hits des Relenium-Festivals mit den Perlen der deutschen Kurzfilmprogramme, die wir beim BLITZFILM Festival in China gezeigt hatten. Wir erfuhren, dass sich eine Underground-Filmszene in Polen erst in den 90er begann zu verbreiten. Die polnischen Filme gingen respektlos mit den Traditionen des Landes um, und die trashigen Kurzfilme fanden ein dankbares Publikum. Unser buntgemischtes Programm konnte gegen die lokalen Werke voller Insider-Witze aber mithalten. Ein gutbesuchtes Festival mit einem begeisterten Publikum. Am nächsten Tag ging es an die Uni. Die Filmklasse, die bisher nur digitale Bildbearbeitung kannte, war völlig begeistert bei unserem Super-8 Workshop dabei. Im Anschluss stand eine Vorführung von „Faites Vos Jeux“ vom ratternden 16mm-Projektor auf dem Programm.
Flyer für das Filmfestival in Bialystok
Unsere polnischen Gastgeber hatten uns einen Besuch bei Filmfreunden im weißrussischen Grodno organisiert, doch sie schienen sehr besorgt um unsere Reise in ein Land, das keinen Anschluss an die EU suchte, sondern stolz auf seine Lenin-Denkmäler ist. Die Weiterreise mit dem PKW in „Europas letzte Diktatur“ wurde uns gründlich ausgeredet, zumal wir mit unseren Projektoren, Filmspulen und Technikkram nicht über die Grenze kommen würden. Nach all der Angstmache suchten wir unsere kompletten Filmprogramme als DVDs heraus und befreiten diese noch von den Hüllen und versteckten sie in einem Ordner mit Musik CDs. Die Fahrt mit der belarussischen Bahn schien alle Vorurteile aus Zeiten des Kalten Krieges zu bestätigen: im Wagon pfiff der eisige Wind durch die zerbrochene Wandverkleidung, und eine Sitzbank brach zusammen, als wir versuchten, uns zu setzen. Die Grenzer sahen mit ihren Pelzmützen und strengen Blicken noch furchteinflößend aus, doch ihren Job machten sie nicht allzu gründlich.
Grodno selbst zeigte sich anders, als von den westlichen Nachbarn beschrieben. Die Stadt glänzte mit frisch renovierten historischen Gebäuden und wirkte wohlhabender als Bialystok mit seiner sozialistischen Plattenbauarchitektur, den windschiefen Holzhäusern und dem polnischen Zustand der Straßen. Uns erinnerte die Stadt an das überrenovierte Weimar, wo uns doch von den Polen Armut und ein unüberwindbarer Kulturschock prophezeit worden war.
Trotzdem können wir von abenteuerlichen Geschichten um unsere Veranstaltungen berichten: Der ursprünglich geplante Veranstaltungsort war einen Tag vor unserer Ankunft von der Polizei wegen „subversiver Aktivitäten“ geschlossen worden. Unsere Gastgeberin erhielt einen Anruf vom KGB, der wissen wollte, was es mit den ständigen Besuchen aus dem Ausland auf sich habe. Mit solchen Widrigkeiten des Alltags haben sich die Aktivisten der belarussischen Subkultur arrangiert. Kurzerhand suchte und fand man andere Veranstaltungsorte für unsere Auftritte. Deutschland kannten die Veranstalter von den Anti-G8 Demonstrationen in Heiligendamm, und sie erzählten uns, dass das Schengen-Abkommen dazu geführt habe, dass der „Eiserne Vorhang“, der bei uns abgebaut worden ist, nun von der EU zwischen Polen und Weißrußland neu errichtet werde. Wir haben so manchen Vodka auf die Abschaffung aller Grenzen trinken müssen.
Unsere Veranstaltungen fanden schließlich in einem polnischen Kulturzentrum und einer polnischen Schule statt. Die Heiligenfiguren und Kreuze im Rahmen einer Chaosfilm-Veranstaltung waren für uns leicht befremdlich, doch der Rückblick auf vier Jahrzehnte Super-8 Kultur, auf die Highlights der aktuellen deutschen Kurzfilmszene, die subversive Zeitreise „Faites Vos Jeux“ und unser Film-Workshop fanden ein weitaus interessierteres und lebendigeres Publikum, als wir es gewohnt waren. Man wollte diskutieren und etwas über unseren Blick auf die Welt erfahren.
Film-Workshop in Grodno
Wir mussten auch nicht lange überzeugt werden, noch einen Abstecher nach Minsk zu machen. Die Hauptstadt präsentierte sich mit ihren Prospekten, den von stalinistischen Monumentalbauten umsäumten Prachtalleen. Eine Sightseeingtour durch das Schneegestöber konfrontierte uns mit dem Kontrast von kommunistischen Kulturmonumenten und einer Vielzahl gefüllter Kirchen.
Kommunistische Kulturmonumente aus alten Tagen in Minsk
Der Filmclub von Minsk hatte auf die Schnelle zu einer Veranstaltungsreihe mit deutscher Filmkultur in seinen Räumlichkeiten eingeladen. Uns brachte man dazu in einen Arbeiterstadtteil, wo man im siebenten Stock eines Wohnblocks eine Wohnung für regelmäßig stattfindende unhabhängige Film- und Diskussionsveranstaltungen gemietet hatte. Mochten die Tapeten halb abgerissen herunterhängen, so bügelte man die Leinwände frisch für unseren Auftritt. Die junge, hippe Szene der Stadt tauchte wie aus dem Nichts in dieser unwirtlichen Gegend auf. An der Tür wurden die Gäste von einem Che-Guevara-Konterfei empfangen. Man hatte sich herausgeputzt, und in der Küche wurde frischer Tee aufgebrüht. Die Räume waren so gefüllt, dass wir Paralellveranstaltungen in verschiedenen Zimmern anbieten mussten. Wir waren schon vorgewarnt, dass man das Publikum für besondere Filmveranstaltungen schon „erzogen“ habe, z.B. mit 24-Stundenprogrammen, doch konnte man uns auch hier beeindrucken. Die Zuschauer waren echte Filmfreaks. Für sie ist Film weit mehr als Unterhaltung, sondern eine sehr philosophische Kunstform, und so verschmolzen die Diskussionen über die Beiträge mit denen über gesellschaftliche Fragen. Kulturinteresse und politisch oppositionelles Denken mischten sich. Die junge intellektuelle Szene, die sich dort traf, unterschied sich von einem entsprechenden Publikum im Westen: Zum einen fiel uns ihr weit gefächertes Wissen auf, zum anderen glänzte sie durch größere Neugier, Aufgeschlossenheit, ihren Optimismus und Mut.
Film-Workshop im Underground von Minsk
Der Filmclub war so angetan von unserem Auftritt, dass wir versprechen mussten, wiederzukommen. Das nächste Mal soll es eine Tournee durch das ganze Land werden. Es soll mit Hilfe der Gewerkschaft der Filmschaffenden aus dem Untergrund in richtige Kinos gehievt werden. Wir sind gespannt. (Karsten Weber, Filmgruppe Chaos)
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