57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007
Der Weg ist das Ziel
„Blindsight“ (Lucy Walker, GB 2006)
Die blinde deutsche Lehrerin Sabriye Tenberken gründet in Lhasa, Tibet, ein Zentrum für blinde Kinder. Um die Kinder zu motivieren, keine Einschränkungen in ihrem Leben zu akzeptieren, erzählt sie ihnen von dem mit 15 Jahren erblindeten amerikanischen Mount-Everest-Besteiger Erik Weihenmayer. Die Kinder schwärmen für Erik und Sabriye nimmt daraufhin Kontakt zu ihm auf. Der Bergsteiger zeigt sich beeindruckt vom Mut der Deutschen, im Alleingang eine Blindenschule zu gründen und schlägt eine Expedition mit den Schülern auf einen Siebentausender im Himalaya-Gebirge vor.
„Blindsight“ beginnt mit der amerikanischen Success-Story des Teenagers, der seine Erblindung nicht als Limitierung akzeptieren will und scheinbar Unmögliches möglich macht. So stark ist die Anziehungskraft dieser Geschichte, dass die tibetanischen Kinder die Ankunft ihres Helden kaum erwarten können. Regisseurin Lucy Walker spielt mit der Faszination, die von Erik Weihenmayer ausgeht und zieht den Zuschauer effizient über einen visuellen und erzählerischen Sog in das Abenteuer einer Himalaya-Besteigung mit blinden Kindern hinein.
Solidarität statt Gipfelstürmerei: „Blindsight“ (Foto: Berlinale)
Schon bei der Planung der Expedition werden allerdings die verschiedenen pädagogischen Ansätze von Erik Weihenmayers Organisation „Climbing Blind“ und Sabriye Tenberkens „Braille without Borders“ deutlich: Weihenmayer setzt auf Selbstvertrauen durch grenzüberschreitende Leistung, Tenberken möchte den Kindern das Solidaritätsprinzip nahe bringen und sie ihre Blindheit nicht mehr als Makel empfinden lassen. Denn in Tibet wird Blindheit als Strafe aus einem früheren Leben betrachtet.
Zwangsläufig führt diese Diskrepanz zu Spannungen im Team. Als das 19-jährige Straßenkind Tashi kurz vor Erreichen des Advanced Basis Camp auf knapp 7.000 Meter Höhe am Rand der körperlichen Erschöpfung steht, treten die Konflikte offen zu Tage. Erik wäre nicht der erfolgreiche Bergsteiger, wenn er nicht einen unbändigen Willen zum Erreichen eines Gipfels hätte. Aber so sehr die Kinder trotz offensichtlicher Anzeichen von Höhenkrankheit nicht aufgeben wollen, Sabriye und ihr Gründungs-Partner Paul Kronenberg bringen das Team zum Umdenken. Es ist dann Erik selbst, der die Idee hat, statt des angestrebten Gipfels ein Eisfeld zu beklettern, in dem die Kinder ihren Spieltrieb ausleben und ihrer Imagination freien Lauf lassen können. Widerstrebend zwar, aber dennoch erkennt Erik: „This trip was not about the mountains, but all about togetherness.“
Walker bleibt stilistisch auf dem sicheren Grund des TV-kompatiblen Dokumentarfilms, immer etwas außer Atem stimmt der Schnitt auf eine spektakuläre Bergbesteigung ein. Doch die Regisseurin adaptiert sehr geschickt die sich verändernde Situation während der Expedition. So wandelt sich „Blindsight“ von der bloßen Abenteuer- und Projekt-Dokumentation zum Lehrstück über die Notwendigkeit der Solidarität und von Kompromissen zum Erreichen eines gemeinsamen Ziels. Nie verliert Walker dabei die Einzelschicksale der Kinder aus den Augen, die in Rückblenden erzählt werden. Kameramann Petr Cikhart und sein Team fangen nicht nur imposante Landschaftsaufnahmen ein, sondern gewannen laut Regisseurin Walker auch das Vertrauen und die Freundschaft der jugendlichen Protagonisten, die vor laufender Kamera zunächst von ihren Ängsten und am Ende der Expedition von ihren Zukunftsplänen berichten. Stets kann man die in der Methodik konträren Standpunkte von Weihenmayer und Tenberken nachvollziehen, ohne von der Regisseurin in eine Richtung gedrängt zu werden. Letztendlich ist die Expedition für alle Beteiligten ein Gewinn. Lucy Walker und ihrem Team gelingt mit „Blindsight“ ein packender und berührender Film über die Kraft der Solidarität. (dakro)
Blindsight, GB 2006, 104 Min., 35 mm. Regie, Buch: Lucy Walker, Kamera: Petr Cikhart, Schnitt: Sebastian Duthy