57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007

Annäherung durch Verfremdung

„Kurz davor ist es passiert“ (Anja Salomonowitz, Ö 2006)

„Ich will das Mitleid und die Empathie beim Zuschauer wegnehmen, denn beides nützt den Betroffenen, die ihre Geschichten erzählen, gar nichts“, sagt Anja Salomonowitz im Gespräch nach der Berlinale-Premiere ihres Dokumentarfilms „Kurz davor ist es passiert“ über Frauenhandel und Zwangsprostitution. Dazu bedient sie sich eines klassischen Verfremdungseffekts, denn sie lässt nicht die Migrantinnen selbst ihre Geschichten sprechen, sondern jene, die auf der Seite der Repression stehen oder stehen könnten: Den Grenzbeamten, der illegale Migrantinnen bei Entdeckung der Abschiebung zuführt, die Nachbarin, die von den Diensten der zur Haussklavin Geehelichten gleich nebenan mit profitiert, den Kellner an der Bordellbar, die gutbürgerliche Diplomatin, die eine Illegale unter dem Deckmantel der Humanität zur Hausarbeit ausbeutet, oder den Taxifahrer, der eine Zwangsprostituierte von Freier zu Freier kutschiert.

 height=

„Täter“ wird zum Erzähler: Der Grenzbeamte Rainer Hallbauer (Fotos (c): Amour Fou)

Natürlich sind solche Geschichtenerzähler nicht die wirklichen Täter, nur solche, die aufgrund ihres Berufes oder ihrer Funktion zu Mittätern werden könnten. Die Geschichten der ausgebeuteten und/oder zur Prostitution gezwungenen Frauen werden durch die Verfremdung entindividualisiert, denn es sind exemplarische Geschichten, die immer ähnlich ablaufen. Ebenso sind die „Täter“ typisierte, denen die jeweils wirklich an den entsprechenden Positionen arbeitenden Laiendarsteller in Salomonowitz’ Inszenierung nicht ihre Persönlichkeit, sondern nur ihre mögliche Funktion im Repressionsapparat leihen. Einfühlung und Identifikation werden wie im Brechtschen Theater sowohl bei den Darstellern als auch den Zuschauern bewusst unterlaufen. Dokument und Fiktion kommen in ein dialektisches Verhältnis, weil jede Fiktion dokumentarische Wurzeln hat und jedes Dokument ein Stück weit immer Fiktion ist.

 height=

Bordell-Kellner als Schnittstelle zwischen Fi(c)ktion und Dokument: Leopold Sobotka

Was zunächst wie ein reichlich konstruierter Regietrick befremdet, erzeugt im Verlauf des Films eine Annäherung an das Thema, die deutlich authentischer ist, als es eine durch Mitleid und Einfühlung verschleierte Sicht sein könnte. Die Fiktion ist sozusagen dokumentarischer als es das Dokument selbst sein könnte.

Freilich schlägt Salomonowitz immer wieder auch Brücken zwischen beiden, oft durch Kollisionsmontage zwischen Bild und im Off gesprochenem Text. So berichtet etwa die Diplomatin von der Erschöpfung ihrer „Figur“, die ihr durch alle Knochen geht, während sie selbst sich im Bild einer ayurvedischen Entspannungsmassage hingibt. Oder der Grenzbeamte: Während er von der Angst seiner „Figur“ in der unbehausten Fremde erzählt, pflegt er liebevoll seine Schildkröten im Gefängnis namens Terrarium.

So simpel solche Kontraste scheinen, sie geben dem Film eine erstaunliche erzählerische Kraft und Salomonowitz’ Konzept wird eindrücklich eingelöst: „Man soll zwei Filme sehen, einen auf der Leinwand, einen davor, der in den Köpfen der Zuschauer entsteht.“ So wie die erzählten Geschichten „mitten unter uns sind, aber unsichtbar dazwischen“. Diese Unsichtbarkeit aufzuheben, ohne Sichtbarkeit zu erzeugen, vielmehr Einsicht, ist eines der Verdienste des Films. Ein anderes, vielleicht noch wesentlicheres, ist zu zeigen, dass ein Dokumentarfilm gewinnt, wenn er nicht nur auf thematischer, sondern auch formaler Ebene ein „heißes Eisen“ anzupacken wagt. (jm)

Kurz davor ist es passiert, Ö 2006, 72 Min., HDV/35 mm. Buch, Regie: Anja Salomonowitz, Kamera: Jo Molitoris, Schnitt: Frédéric Fichefet, Gregor Wille

Cookie Consent mit Real Cookie Banner