Der Tod als Bindeglied

„Auf der anderen Seite“ (Fatih Akin, D 2007)

Zwei Einstellungen im Abstand von 40 Filmminuten: Ein Sarg geht auf die Flugreise von Hamburg nach Istanbul, ein zweiter von Istanbul nach Hamburg – das Schicksal ist ein Drehbuchschreiber, oder anders herum: Autor und Regisseur Fatih Akin spielt in seinem neuen Film „Auf der anderen Seite“ – nach „Gegen die Wand“ zweiter Teil seiner Trilogie „Liebe, Tod und Teufel“, in Cannes bereits mit dem Drehbuchpreis und dem Preis der Ökumenischen Jury dekoriert sowie als deutscher Beitrag für die Oscar-Nominierungen zum besten ausländischen Film nominiert – mit dem Schicksal als Stifter von Geschichten, die das Leben nicht immer geradlinig schreibt. Die Schicksale von sechs Menschen verbindet der Film mit dem lockeren Band zweier Tode.

Der Inhalt von drei Geschichten in verschiedenen Welten und damit jeweils auf einer anderen Seite, die Akin in verwirrend erhellende Wechselwirkung bringt: Der türkische Witwer Ali (Tuncel Kurtiz) besucht die ebenfalls aus der Türkei stammende Nutte Yeter (Nursel Köse) regelmäßig und bietet ihr einen „Job“ als seine neue Frau an. Doch in einem Streit erschlägt er sie.

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Beginn einer schicksalhaften Kreuzung von Lebenswegen: Freier Ali erfreut sich an Yeters Liebesdiensten (Foto: www.auf-der-anderen-seite.de)

Alis Sohn Nejat (Baki Davrak), Professor für Germanistik an der Uni Bremen, fühlt sich daher in der Schuld, Yeters Tochter Ayten (Nurgül Yesilçay) ein Studium in Deutschland zu ermöglichen, muss sie dafür aber erst einmal finden und reist dazu nach Istanbul. Dort findet er zwar Ayten nicht, aber eine neue Existenz in einer deutsch-türkischen Buchhandlung. Zeitgleich zum gewaltsamen Tod ihrer Mutter muss Ayten als linke politische Aktivistin aus der Türkei fliehen und findet in Bremen eine Herberge bei der Studentin Lotte (Patrycia Ziolkowska). Doch Ayten wird von der deutschen Polizei aufgegriffen und als „illegale“ Einwanderin in die Türkei abgeschoben, wo sie inhaftiert wird. Lotte, die eine lesbische Liebesbeziehung zu Ayten geknüpft hat, reist nach Istanbul um ihrer Freundin zu helfen. Bei Nejat, den sie zufällig in seiner Buchhandlung kennen lernt, findet sie Obdach. Als Lotte eine von Ayten versteckte Waffe bergen soll, wird ihr die Pistole von Straßenkindern entwendet und sie damit erschossen. Lottes Mutter Susanne (Hanna Schygulla) reist nach Istanbul um den rätselhaften Tod ihrer Tochter aufzuklären. In Nachfolge ihrer Tochter versucht sie der inhaftierten Ayten zu helfen und findet nach deren Haftentlassung in ihr eine „zweite“ Tochter …

Den Plot der verwobenen und verschlungenen Schicksalsgeschichten, der Leben, die einander „kreuzen, aber nicht berühren“, so in kurzer Inhaltsanagabe zu „pitchen“, gibt Akins Drehbuch, das für einen ganz großen Roman taugen würde, nur skizzenhaft verzerrt wieder. Einen so komplizierten Plot filmisch zu erzählen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Akin gelingt es dennoch, indem er die drei Geschichten nicht wie in Alejandro González Iñarritus „Babel“, welcher Film ihn nach eigenem Bekunden beeinflusst habe, „hin und her zappend“ erzählt, sondern „nach einander, immer wieder von vorne anfangend“. Ein erzählerisch fast schon genialer Trick, der den Film trotz seines komplizierten Plots nachvollziehbar bleiben lässt. Akin zur Entstehung des Drehbuchs: „Das waren erstmal nur Mosaiksteinchen, die an der Grenze zum zu viel Erzählen lagen, aber gerade da wird es interessant.“ Immer wieder legt Akin „falsche Fährten“, auf denen sich die sechs Protagonisten, die einander suchen, finden könnten, und schafft so eine fortwährende erzählerische und unbedingt filmische Spannung. An das Märchen von den Königskindern, die zueinander nicht kommen können, erinnert das, denn der Tod bricht Spuren ab und ist dennoch das verbindende Moment zwischen den Figuren. „Vielleicht ist das mein spirituellster Film“, sagt Akin, der den erzählerischen wie filmbildnerischen Wechsel zwischen den Kulturen, zwischen Deutschland und Türkei bereits in „Gegen die Wand“ meisterhaft (und preisgekrönt – „Goldener Bär“ auf der Berlinale 2004) inszenierte.

„Auf der anderen Seite“ ist so sprung- und wechselhaft wie das Leben selbst, das zwar die besten, aber auch die unübersichtlichsten Geschichten schreibt. Und wenn Filme Machen vor allem Geschichten erzählen ist, Roman in Bildern, dann hat Akin hier einen wahren Kraftakt gestemmt. Nebenbei gelingt ihm dabei ein Porträt der politischen Verhältnisse im aktuellen Kampf der Kulturen zwischen Ost und West. Wenn Akin die „oldschoolig“ anmutenden Mai-Demonstrationen in Bremen mit jenen in Istanbul gegenschneidet, hat er ein wenig auch von Eisensteins „Kollisionsmontage“ gelernt – ohne das vielleicht zu wissen. „Auf der anderen Seite“ ist so nicht zuletzt ein politischer Film. Allerdings ohne jede Propaganda, es sei denn die zutiefst romantische, dass der Tod das intensivste Bindeglied zwischen und in Lebensläufen ist.

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Berührung über die Grenzen zwischen zwei anderen Seiten: Liebespaar Aytan und Lotte (Foto: www.auf-der-anderen-seite.de)

Fast auch als Lehrstück. Akin betont in Interviews, dass er sein gegenwärtiges Filmschaffen als „Hausaufgaben Machen“ empfindet. Hausaufgaben an den ganz großen Themen des eben nicht nur Abendlandes, sondern des Humanen überhaupt. In „Auf der anderen Seite“ gibt es dafür eindrückliche, ikonenhafte Bilder: Etwa wenn sich die Liebenden Ayten und Lotte in Aytens Asyl-Unterkunft über die Weiten zweier getrennter Betten die tröstende Hand reichen, wenn Susanne im istanbulischen Hotelexil, dessen Zimmer wir schon aus „Gegen die Wand“ kennen, am Leben und seinen Toden verzweifelt oder wenn Nejat am Filmende am Meer sitzt, dem Symbol für die ewige Reise, dafür dass Heimat, Ankommen immer nur da sein kann, wo man gerade, wohin man – ganz existenzialistisch – „geworfen“, von den Odysseen des Lebens gespült ist. (jm)

„Auf der anderen Seite“, D 2007, 122 Min., 35 mm. Buch/Regie: Fatih Akin, Kamera: Rainer Klausmann, Schnitt: Andrew Bird, Produktion: Corazón International, Verleih: Pandora Film. Gefördert u.a. von der Filmförderung Hamburg, Kulturelle Filmförderung S.-H., Nordmedia, FFA, BMFK.

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