FilmTrain 2004-2006

Ungeträumte Träume

„In Limbo“ (Friederike Rückert, D 2006)

Ein Pferd trabt an den Panoramascheiben des Kieler Cafés Viva vorbei, dreht dressierte Runden auf dem Dach eines Hochhauses oder schimmelreitet am Strand, an dessen nebelverhangener Steilküste drei Frauen stehen wie in einem Gemälde von Caspar David Friedrich. Solche surreal-symbolistischen Szenen sind es wohl, die Friederike Rückert dazu veranlasst haben, ihre Dokumentation über drei Kieler Frauen, die ihren Lebensunterhalt als Kellnerinnen verdienen, als „Doku-Fiktion“ zu bezeichnen. Vielleicht aber ist es auch die fortgesetzte Gegenüberstellung von ungelebten Lebensträumen und den Realitäten des Tresenwesens, die es nahelegen von Fiktion zu sprechen – ja zu fragen, ob nicht jede Dokumentation letztlich auch eine Fiktion ist, indem sie Pläne vom Dargestellten entwirft wie die drei Protagonistinnen von ihren ungeträumten Lebensträumen.

Melanie, Marianka und Jette stehen kurz vor ihrem 30. Geburtstag. Eine „magische“ Zahl, noch nicht die Midlife-Crisis, aber Fragen stellen sich dennoch drängend: Was wollte ich, was habe ich daraus gemacht, was werde ich werden? Alle drei Frauen arbeiten seit über zehn Jahren als Kellnerinnen in Bars und Cafés – nicht alle im Viva, wie der Film suggeriert, nein: leicht fiktional zusammenfasst, denn ein Tresen gleicht dann doch dem anderen. Begonnen hat das bei allen mal als Studentenjob, aber dann sind sie dabei geblieben. Und haben darüber ihre Lebensträume ausgeträumt? So speziell das Setting ist, so allgemeingültig porträtiert „In Limbo“ doch eine ganze Generation der heute Thirty-Somethings. Für den Aufbruch von 1968 mit all seinen ideologischen Lebensrettungsgesellschaften sind sie zu jung, ebenso für die berühmte „Generation X“ der heute 40-jährigen. Aber auch ihre Generation der Mitte der 70er Jahre Geborenen leidet unter einer gewissen Perspektivlosigkeit zwischen abgebrochenen Anfängen und angefangenen Ausbrüchen.

„Ich hab’ immer gedacht, dass ich mit 24, 25 schon total alt bin und vielleicht schon verheiratet bin und das kam mir immer so total erwachsen vor. Jetzt bin ich schon wesentlich älter und jetzt setzt das so langsam an, dass ich denke, ich krieg’ mal so’n bisschen erwachsene Züge aber ich fühle mich eigentlich immer noch wie ein Mädchen und das finde ich auch total gut so“, erzählt Melanie der „Talking Heads“-Kamera. Der Aufbruch war gestern, als sie als junge Studentin mit wenig Lust zu einem auch eher zufällig gewählten Studium sich immer häufiger ins Nachtleben stürzte, um – das lag halt nahe – irgendwann mal die Tresenseiten zu wechseln und sozusagen das „Hobby“ zum „Beruf“ zu machen. Freilich ohne Berufung, denn eigentlich wollte Melanie Tänzerin werden. „Du musst was Ordentliches machen“, sagte man – und sie sich – Marianka. „Aber mir fiel nichts Ordentliches ein.“ Und was ist schon „ordentlich“? Immerhin: als Kellnerin hat frau einen erstaunlich geordneten Tagesablauf zwischen Kaffeeautomat und nächtlicher Kassenabrechnung. DJane würde sich Marianka als Traumjob vorstellen – und Rückert bringt sie filmisch, träumerisch, fiktional vom Tresen ans Pult, von Tasse und Teller an die Turntables. Und surreal, mitten im Winter, auf auch so eine abgebrochene Brache, das Niemandsland an der Kieler Hörn südlich der Bauleiche des Schmidt-Hochhauses. Wenn das kein Symbol ist – oder doch ein fein inszenierter Traum?

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Und Jette, die sich schon durch manche Kieler Cafés gejobbt hat, während sie doch eigentlich mal Richtung Logopädie oder Radio Machen gezielt hatte … Doch jetzt sind da im Viva die Stammgäste, die oft nerven, weil sie jeden Tag dasselbe bestellen und auch noch über ihre ebenfalls unvollendeten Lebensträume reden wollen.

Geschickt mixt Friederike Rückert die Ebenen von Realität und Traum, der nur im Film zu einem solchen werden kann, in der Realität wohl nicht mehr, und ihr gelingt dabei mehr als eine Dokumentation über drei Frauen mit ungewissen Perspektiven. Über die Inszenierung von Träumen im Film hat Rückert jüngst als Filmwissenschaftlerin gearbeitet, hier liefert sie dazu sozusagen das realisierte Gesellinnenstück. Die Pferde traben durch die Szenen wie andalusische Hunde auf Filmfutter-, also Zitat-, also Traumsuche. Und wenn wir aufwachen? Dann erst dürfen wir wie die drei Damen vom Tresen weiter träumen, was keinesfalls schon ausgeträumt ist – der hier angeträumte Traum von einer neuen Art des filmischen Dokumentierens. (jm)

In Limbo, D 2006, DV (Beta SP), 28 Min. Regie: Friederike Rückert, Regieassistenz: Christian Straub, Kamera: Simon Guy Fässler, Alexa Höber, Kamerabühne: Malte Kneib, Simon Kühl, Kamerassistenz: Ulrich Selle, Schnitt: Friederike Rückert, Torsten Pinne, Aufnahmeleitung: Jan-Gerrit Seyler, Licht: Jörg Berger, Script: Nadine Lindenau, Ton: Torsten Pinne, Toni Labrador, Mischung: earworx, Produktionsassistenz: Rebecca Freyer, Nils Morich, Maske: Deele Andrée, Storyboard: Jan Puck, Fotografin: Susanne Ludwig, Catering: Janna Rönnau, Kooperativa, Fahrer: Jan Puck, Tierbetreuung: Fee Kleine, Jan Puck, Angeline Schube, Titeldesign: Marius Gugg, Gestaltung: Rebecca Freyer, Musik: Rio Bravo, Christian Morgenstern, Torsten Pinne, Stefan Senz, Produktion: FilmTrain, Friederike Rückert. Mit: Melanie Mendrys, Marianka Benesch, Jette Schätzel. Trailer: http://rzglab15.rz.uni-kiel.de/geotv/filmtrain/inlimbo.wmv

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