56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006
Die Berlinale als politisches Festival: Rückschau auf den Wettbewerb
56. Internationale Filmfestspiele Berlin. Was bleibt nach 10 Tagen voller Filme zurück an Eindrücken und Erinnerungen? Da war zunächst einmal schon im Vorfeld das Jubilieren über den deutschen Film, das sich dann auf der Berlinale zu bestätigen schien. Der deutsche Film war hier so präsent und so gepriesen wie seit etlichen Jahren nicht mehr. Weitaus wichtiger und nachhaltiger scheint jedoch die Tatsache, dass sich das Festival wieder stärker als ein politisches in der Medienöffentlichkeit zu etablieren vermochte. Dazu trugen neben spektakulären Filmen wie etwa „The Road to Guantánamo“ von Michael Winterbottom und „Syriana“ von Marc Evans mit George Clooney vor allem die kleinen, mehr leisen Filme wie das kleine persische Meisterwerk „Zemestan“ („It’s Winter“) von Rafi Pitts oder der bosnische Festivalgewinner „Grbavica“ von Jasmila Žbanić, aber auch Hans-Christian Schmids „Requiem“ bei. Allen ist gemeinsam, den Blick auf den Einzelnen als Opfer der gesellschaftlichen bzw. politischen Zustände zu öffnen.
Verstörend wie hoffnungslos Rafi Pitts das Schicksal seiner Protagonisten in seinem fast sprachlosen „Zemestan“ zeigt. Hart und perspektivlos scheint ihr Überlebenskampf als Arbeiter im Iran. Nur in der „Flucht“ als Fremdarbeiter ins Ausland sieht der arbeitslose Mokhtar noch eine Zukunft. Dass er dabei seine Frau Khatoun mit Kind in der Heimat zurücklassen muss, nimmt er klaglos hin. – Unglück macht stumm: Am Ende wird er ohne Trost gescheitert zurückkehren und sich das Leben nehmen. Auch der Anspruch des jungen unsteten Mechanikers Marhab, Khatouns zweitem Mann, dass sein Leben noch etwas anderes bieten müsste als die tägliche Arbeit, erfüllt sich kaum. Zu vermessen ist dieser Wunsch im trostlosen Überlebenskampf in einer öden Umwelt, die selbst dann, wenn der erbarmlose Winter nicht das Feld beherrscht, nur ein eisig kaltes Grau zu bieten hat.
Ein eisig kaltes Grau in „Zemestan“ (Foto: Berlinale)
Während Rafi Pitts neorealistische Geschichte von eindringlicher Symbolik zehrt und ihr Leid in ruhigen, bisweilen poetischen Bildern still auf die Leinwand bringt, setzt Michael Winterbottom in „The Road to Guantánamo“ auf die laute, unverblümte Anklage. Seine „Doku-Fiction“ erzählt von den Schicksalen dreier britischer Muslime, die unschuldig in Afghanistan gefangen genommen und ins illegale US-Gefängnis Guantánamo auf Kuba gebracht werden, wo sie zwei Jahre menschenunwürdig „behandelt“ werden. Als Opfer amerikanischer Willkür erzählen sie ihre Haftgeschichten von Rechtlosigkeit, Misshandlungen und Folter, die im Film spannend in Szene gesetzt werden. Die Verquickung von Dokumentarischem mit Fiktionalem (vor allem in den Gefechtsszenen im afghanischen Kundus, die bei manchem als Dokumentaraufnahmen „durchgehen“ mögen) stieß bei manchem Kritiker auf Unbehagen. Die überwiegende Mehrheit der Festivalbesucher hingegen konnte der Film in seiner nüchtern, realistischen Darstellung der völkerrechtswidrigen Methoden der Amerikaner in ihrem „Antiterror-Krieg“ überzeugen.
Hoch aktuell will uns auch „Syriana“ von Marc Evans die Welt, sprich: die Folgen der Globalisierung erklären. In einem spannenden, aber überkonstruierten Lehrstück über die Verquickung von Wirtschaft und Politik erfährt der Zuschauer, in welch unlösbaren Abhängigkeiten vom US-Kapital die Ölförderländer des Nahen Ostens stecken, wie kurz der Weg von Idealen zum Terrorismus sein kann und welche fatale Rolle der US-Geheimdienst auch in der Weltwirtschaft spielt. Leider versucht der Drehbuchautor Stephen Gaghan, der mit „Traffic“ einen Drehbuch-Oscar gewonnen hat, das gleiche Rezept der Handlungsverwirrung wie bei „Traffic“ noch einmal anzuwenden, was nicht gerade zur Übersichtlichkeit und zum Gesamtverständnis des Films beiträgt. Gemäß dem Motto „Warum denn einfach, wenn’s auch kompliziert geht?“ besteht der Plot aus fünf verschiedenen Stories, die so extrem ineinander geschnitten werden, das man nicht selten den Überblick verliert.
George Clooney als US-Geheimagent in „Syriana“ (Foto: Berlinale)
Neben „Syriana“ waren die USA im Wettbewerbsprogramm außer mit dem Biopic „Capote“ von Bennett Miller, in dem Philip Seymour Hoffman in der Titelrolle sein Meisterstück ablieferte, noch mit drei Filmen von Regie-Altmeistern vertreten. Sidney Lumet erinnerte mit dem Gerichtsfilm „Find me guilty“ erfolgreich an sein erstes Meisterwerk „Die zwölf Geschworenen“, Robert Altman brillierte mit solch einer Leichtigkeit in seiner Country-Song-Hommage „A Prairie Home Companion“, dass er von vielen als erster Anwärter auf den Goldenen Bären angesehen wurde, und Terrence Malick spaltete mit seinen vierten Film „The New World“ die Zuschauergemeinde in ihrem Urteil. Begeisterung und Ablehnung hielten sich die Waage für seinen Pocahontas-Film, der in beeindruckenden Bildern den Blick freigibt auf eine fremde Welt im Amerika vor 400 Jahren. Mag sein Film zwischen Traumzeit und Zivilisation auch nicht an die poetische Dichte und zivilisationskritische Mächtigkeit von „The Thin Red Line“ („Der schmale Grat“) heranreichen, für den er 1999 den Goldenen Bären gewann, so überragt er doch aufgrund seiner opulenten Bildästhetik und ruhigen Nachdenklichkeit viele Filme des Wettbewerbs.
Q’Orianka Kilcher und Colin Farrell in „The New World“ (Foto: Berlinale)
Bei einigen anderen Filmen fragte man sich hingegen, warum sie ausgerechnet im Wettbewerb laufen mussten. Oskar Röhlers „Elementarteilchen“ ist so ein Film. Gerne hätte man statt dessen Detlef Bucks Neuköllnisches Sozialdrama „Knallhart“, das dem Regisseur ein erfolgreiches Comeback bescherte, im Festivalpalast gesehen. Doch „Knallhart“ musste wie so viele andere sehenswerte Filme mit dem Panorama-Platz im Zoopalast vorlieb nehmen. Dem Panorama war es nur recht. Hat es sich doch schon längst neben Wettbewerb und Forum als dritte Hauptsektion, die in ihrem Special neben ausländischen Highlights besonders mit deutschen Uraufführungen von sich reden macht (heuer noch mit: „Bye Bye Berlusconi!“, „Der Rote Kakadu“ und „Komm näher“), erfolgreich etabliert. (Helmut Schulzeck)