Der mechanisierte Blick
Fotos der Luftaufklärung im Stadtmuseum Schleswig
Im Stadtmuseum Schleswig ist zur Zeit eine Ausstellung zu sehen, die ihren ganz eigenen Beitrag zur Foto-Geschichte liefert. Der Titel „Mit Adleraugen – 10 Jahre Aufklärungsgeschwader 51 Immelmann“ erklärt zwar den Anlass, klingt aber auch ein wenig irreführend, denn es geht weniger um eine stolze Militär- und Geräteschau, sondern um das traditionelle Medium der taktischen Luftaufklärung: die Fotografie.
Zu sehen sind rund 50 ausgewählte Schwarzweiß-Aufnahmen mit hohem zivilen Wiedererkennungswert. So zum Beispiel der Zusammenfluss von Rhein und Mosel in Koblenz bei Hochwasser und normalem Pegelstand, die „Queen Mary 2“ im Hamburger Hafen oder das Segelschiff „Passat“ in Travemünde. Aber auch militärische Objekte wie Bundeswehrkasernen oder Gruppen von Militärfahrzeugen im Gelände sind zu sehen. Die Aufnahmen beeindrucken nicht nur durch ihre technische Qualität, was Schärfe, Auflösung und Kontrastumfang betrifft, sie sind auch schön anzuschauen.
Schleswig, aufgenommen aus 4.473m Höhe bei 759 km/h
Das ist in soweit bemerkenswert, als es sich ja nicht um gestaltete Lichtbilder im üblichen Sinn handelt, sondern eigentlich nur um „Abfallprodukte“ aus einer unüberschaubaren Menge rein technischer Dokumente. Für den militärischen oder polizeilichen Nutzen der Fotos ist ihre ästhetische Wirkung irrelevant. Ob die aufgezeichneten Daten auf sichtbaren oder unsichtbaren Wellen beruhen, ist nur eine Frage der Zielstellung. Konsequenterweise werden die optischen Aufnahmeapparaturen auch nicht als Kameras, sondern als „Sensoren“ bezeichnet. Sie belichten je nach Modell durch drei oder fünf Objektive gleichzeitig bis zu zehn mal pro Sekunde einen ca. 60 cm breiten und rund 150 m langen Filmstreifen in Flughöhen zwischen 150 und 4.000 m bei mehr als halber Schallgeschwindigkeit. Die einzelnen Negative haben daher Formate von rund 20 mal 7 cm und könnten problemlos in einem Imax-Kino projiziert werden.
Die Gestaltung und Ausarbeitung der Fotoabzüge zielt weniger auf eine naturalistische Wiedergabe, sondern auf die bestmögliche Interpretierbarkeit. Die Schatten der Architekturen und topographischen Strukturen werden dabei genauso analysiert, wie die sichtbaren Objekte selbst, weshalb Aufklärungsflüge bei tiefem Sonnenstand bevorzugt werden. Durch die schnelle Abfolge der Aufnahmen und die Fortbewegung des Flugzeuges ist es auch möglich, aufeinander folgende Bilder zu stereoskopischen Fotos zu verschmelzen, die einen direkt erfahrbaren räumlichen Eindruck liefern. Durch den Parallel-Einsatz von digitalen Wärmebild-Kameras kommt noch eine zeitliche Komponente hinzu. Der warme Motor eines kürzlich abgestellten Autos lässt sich damit genauso nachweisen wie der „thermische Schatten“ eines bereits entfernten Fahrzeugs. Überhaupt ist diese „Aufklärung“ aus der Luft ein grundsätzlich zeitbasiertes Medium, weil sich Veränderungen vor allem durch den Abgleich zeitversetzter Aufnahmen feststellen lassen.
Dreilinsige Zeiss-Spezialkamera für Luftaufnahmen
Sie ist auch deshalb zeitbasiert, weil in kürzestmöglicher Zeit die größtmögliche visuelle Information gesammelt werden soll. Im Grunde ist es die Perfektionierung einer voyeuristischen Idee: Soviel wie möglich zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Dieser voyeuristische Aspekt offenbart sich mit bitterem Beigeschmack auf einem Luftbild der Stadt Mostar im Bosnienkrieg Anfang der 90er Jahre. Ganz rechts am Bildrand sieht man einen kleinen schwarzen Balken, der den Fluss quert. Es ist der provisorische Pioniersteg, der die berühmte zerstörte Stari-Most-Brücke ersetzt. Beim genauen Hinsehen erkennt man auf der gestochen scharfe Aufnahme, dass viele Häuser keine Dächer mehr haben. Der Grundriss der Wohnungen liegt offen wie eine Wunde, und der letzte Rest schützender Privatheit wird ihnen durch den Blick von oben genommen.
Mit den in der Ausstellung gezeigten Systemen lassen sich im Tiefflug auch Autokennzeichen und selbst Gesichter identifizieren. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, weshalb die Düsenjets der Luftaufklärung selbst bei der Suche nach einzelnen Personen immer wieder eingesetzt werden.
Das besondere an der Rezeption der Luftaufnahmen ist, dass hier etwas systematisiert wird, was jedem Touristen zum Vorwurf gemacht würde: das – im wörtlichen Sinn – blinde Vertrauen auf die Kamera als unbestechliches oder besseres Auge. Das Auswerten der visuellen Eindrücke wird jeweils auf später verlegt, weil einerseits der Urlaub zu kurz und andererseits der Aufenthalt im feindlichen Luftraum zu gefährlich ist. Die Oberflächlichkeit dieser Sehweise ist bei der Luftbildaufklärung systematisch bedingt. Der Blick von oben auf die Fläche ist die einzige Perspektive, die sich ihr bietet, und nur mit großem Aufwand lassen sich aus dem Abbild der Topographie zeitliche und räumliche Informationen gewinnen. Ohne Spezialkenntnisse bleiben diese Bilder nichtssagend wie ein Dia-Abend von flüchtigen Bekannten.
Erstaunlich scheint in der Schleswiger Ausstellung die Offenheit, mit der die Leistungsfähigkeit der Aufnahme- und Abbildungssysteme präsentiert und erläutert wird. Angeblich ist dies die erste öffentliche Präsentation von taktischen Aufklärungsbildern überhaupt. Abgesehen von der militärischen Harmlosigkeit der gezeigten Motive, lässt dies den Schluss zu, dass das tatsächliche Potential der Luftbild-Aufklärung wesentlich weiter reicht, oder aber dass die klassische Nassfilmfotografie im militärischen Bereich ein Auslaufmodell ist, dem hier die letzte Ehre erwiesen wird. (Lorenz Müller)
„Mit Adleraugen – 10 Jahre Aufklärungsgeschwader 51 Immelmann“; Fotoausstellung im Stadtmuseum Schleswig (Friedrichstr. 9, Schleswig); Noch bis 21.11.2004, Di – So: 10.00 – 17.00 Uhr, Eintritt: 3,00 Euro (ermäßigt: 1,50 Euro)