Bittere Süße
Christoph Corves‘ Dokumentarfilm „Süßhunger“ hat Premiere im N3-Fernsehen.
Haitianische Wanderarbeiter auf einer Zuckerrohrplantage in der Dominikanischen Republik. Rübenbauern in Dithmarschen. Ein Broker an der Warenterminbörse in New York. Ein Affenforscher in Paris. Gen-Ingenieure in Texas. Was verbindet ihr Leben? Der Weltmarkt für Zucker.
Der Kieler Dokumentarfilmer war dem globalen „Zuckerschach“ und seinen Mitspielern über mehrere Monate mit der Kamera auf der Spur. Entstanden ist eine 43-minütige Reportage, deren Produktion von der MSH, der EU-Kommission für Entwicklungshilfe und dem Evangelischen Entwicklungsdienst gefördert wurde und die am 24. September, 23 Uhr im N3-Fernsehen erstmals gesendet wird.
Aus dem Treatment zum Film
Schon immer war Süßes ein besonderes Gut. Über Jahrhunderte war Zucker für mehr als die Hälfte des Überseehandels der europäischen Nationen verantwortlich. Millionen von Sklaven wurden von Afrika in die Zuckerkolonien in der Karibik und in Brasilien gebracht. Der Süßhunger der Europäer formte das Antlitz der Neuen Welt. Bis zum heutigen Tage. Eigentlich ist dies bemerkenswert, denn Zucker wird vom Körper nicht gebraucht, war bis ins 14. Jahrhundert den Europäern kaum bekannt. Wie erklärt sich der ungeheure Aufwand finanzieller, wirtschaftlicher und auch menschlicher Ressourcen, um in den Besitz des süßen Stoffes zu gelangen?
Zuckerrohrernte in der Dominikanischen Republik
Heute wird der Weltmarkt für Süßungsmittel auf 70 Milliarden Dollar im Jahr geschätzt. Seit Jahrhunderten ist Zucker der wichtigste Stoff in diesem Geschäft. An den Warenterminbörsen in London, Paris und New York floriert der Handel mit Zuckerfutures – Wetten auf die Zuckerpreise kommender Ernten. Kontrolliert wird der Handel von großen englischen, US-amerikanischen und französischen Handelsgesellschaften. Manche von ihnen existieren bereits seit der Ära der europäischen Zuckerkolonien in der Karibik. Doch auch eine Handvoll Hamburger Handelskontore wickelt das süße Geschäft über die Börsen in New York und London ab.
Der Weltmarktpreis orientiert sich an der Zuckerbörse in New York. Er entscheidet über Wohl und Wehe von Entwicklungsländern, deren Wirtschaft auch heute noch vom Zuckeranbau abhängt. Die Dominikanische Republik ist eines dieser Länder. Während an der Wall Street die Zuckerbroker mit Millionen jonglieren und Europas Billigtouristen an den weißen Palmenstränden der Karibik eisgekühlte Cola mit Rum schlürfen, schuften in der Dominikanischen Republik entrechtete Landarbeiter bei der Zuckerrohrernte. Seit der Sklavenzeit hat sich hier nicht viel geändert. Denn das süße Gold lässt sich nicht ohne die „Ware Mensch“ erzeugen. Menschenrechtsorganisationen nennen sie „die letzten Sklaven der Karibik“. In früheren Jahrhunderten kauften die spanischen Haciendas afrikanische Sklaven. Heute kaufen die Plantagengesellschaften die Arbeiter für die Zuckerrohrernte bei Polizei und Militär. Sie kontrollieren den lukrativen Handel mit haitianischen Plantagenarbeitern. Alljährlich werden Tausende von Haitianern illegal über die dominikanische Grenze geschleust und auf die Zuckerrohrplantagen gebracht. Die Plantagenbesitzer zahlen zwischen 30 und 50 Dollar pro Kopf und Erntesaison. Arbeiter, die den Plantagen entfliehen, werden nach Haiti deportiert.
Zuckerbörse in New York
Auch in Europa würde Coca Cola seinen Zucker gern so billig kaufen wie in der Karibik. Die Lobbyisten des Soft Drink-Konzerns laufen in Berlin und Brüssel Sturm gegen die Zuckermarktordnung, die den Zuckerpreis festsetzt und den europäischen Binnenmarkt gegen den Import billigen Weltmarktzuckers abschottet.
Fast 80 Prozent des Zuckers werden heutzutage nicht mehr direkt konsumiert, sondern von der Nahrungsmittelindustrie verarbeitet. Ständig wird in ihren Labors nach Stoffen gesucht, die Zucker ersetzen könnten. Das ist nicht einfach, denn Zucker ist nicht nur „süß“. Er verstärkt andere Geschmäcke, gibt Nahrungsmitteln Substanz, überdeckt den unangenehm bitteren Geschmack vieler Nahrungsmittelzusatzstoffe. Doch die vielleicht wichtigste Eigenschaft von Zucker hält die Industrie gern im Verborgenen. Zucker ist Alkohol und Tabak darin ähnlich, dass die Dosis gesteigert werden muss, wenn über längere Zeiträume die gleiche Empfindungsintensität erzielt werden soll. Der Körper gewöhnt sich an den süßen Geschmack. Ein klassischer Effekt von Genussmitteln und Drogen.
Staat und Fiskus hatten schon immer wenig Zweifel an der Sucht nach dem Süßen. Bereits vor Jahrhunderten gab es neben den noch heute existierenden Steuern auf Alkohol und Tabak auch eine Zuckersteuer. Im ausgehenden 19. Jahrhundert trug sie fast 10 Prozent zum Steueraufkommen des Deutschen Reiches bei. Um den regelmäßigen Steuerfluss in das öffentliche Säckel zu garantieren, förderte der Staat die Bildung eines Kartells der Zuckerindustrie. Solche Kartelle kontrollieren noch heute die Zuckermärkte in Deutschland und Europa.
Zuckerfabrik in Schleswig
Erst im November 2000 monierte der Europäische Rechnungshof in einem Sonderbericht, dass das Zuckerkartell dazu führe, dass Europas Verbraucher bis zu 6,5 Milliarden Euro mehr für ihren Zucker bezahlten, als sie bei freiem Handel zu Weltmarktpreisen ausgeben müssten. Das staatlich geförderte Monopol sei nicht nur teuer für den Verbraucher, sondern es würden Jahr für Jahr Millionen Tonnen von Zucker über den europäischen Bedarf hinaus produziert. Die würden dann hoch subventioniert zu Dumpingpreisen auf den Weltmarkt geworfen. Dort ruiniere der europäische Dumpingzucker den Preis, den Entwicklungsländer für ihren Zucker auf dem Weltmarkt erzielen könnten. Entwicklungshilfeorganisationen kritisieren, das Auskommen der hiesigen Rübenbauern werde von den Arbeitern auf den Zuckerrohrplantagen mit immer niedrigeren Hungerlöhnen, immer unmenschlicheren Arbeitsbedingungen bezahlt.
Unheil könnte den Zuckerproduzenten in Europa wie in der Karibik von unerwarteter Seite drohen: aus dem Herzen Afrikas, aus dem man einst Millionen von Sklaven auf die Zuckerplantagen in der Karibik verschleppte. Vor rund 15 Jahren entdeckten Forscher eine neue Klasse supersüßer Eiweiße in Früchten aus dem afrikanischen Regenwald. Den Stoff, aus dem die Träume der Foodkonzerne sind, fand ein französischer Affenforscher. Jahrelang hatte er Affen aufs Maul geschaut. Welche Früchte vernaschten sie am liebsten? In den roten Früchten einer unscheinbaren Liane wurde er fündig. Nordamerikanische Forscher brauchten nur wenige Jahre, um die Gene des süßen Proteins zu isolieren. „Brazzein“ nannten sie den Stoff, den sie flugs weltweit patentierten. Rund 1000 mal süßer als Zucker und dabei kalorienfrei – ideal für die Foodindustrie.
Genlabor – auf der Suche nach dem süßen Stoff
Eine texanische Biotechschmiede hat die Gene in Mais eingebaut. Die Maispflanzen werden so „umprogrammiert“, dass sie Brazzein produzieren. Schon in wenigen Jahren soll der neue Süßstoff billig und in großen Mengen auf den Markt kommen. Droht so dem Zucker aus Rübe und Rohr das Aus? Werden die Dithmarscher Rübenbauern zum nächsten Bauernopfer im globalen Süßstoffschach?
„Süßhunger“ – eine Reise auf der Suche nach dem Weltmarkt. Ein Film über Macht und Ohnmacht im Handel mit dem süßen Gold.