62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012

Zwischen Filmkunst und Phlegma

Einblicke in den Wettbewerb

385 Filme zeigten die diesjährigen Internationalen Filmfestspiele Berlin. 23 Spielfilme liefen im Wettbewerb, davon 18 in der Konkurrenz um die Bären. Schon im Herbst des vorigen Jahres war Festivaldirektor Dieter Kosslick von mehreren bekannten deutschen Filmkritikern vorgeworfen worden, dass der Wettbewerb immer mehr an Profil verliere, weil das Festival mit seinen anderen Programmsektionen und weiteren Nebenschienen (Panorama, Forum, Forum Expanded, Generation Kplus/14 plus, Perspektive Deutsches Kino, Retrospektive und Hommage, Berlinale Special, Berlinale Shorts, Berlinale Goes Kiez, Kulinarisches Kino, „Happy Birthday, Studio Babelsberg“, German Cinema – Lola@Berlinale) aus allen Nähten platze, Übersicht und Charakter verschwimmen würden und der Wettbewerb im Vergleich zu Cannes und Venedig nicht mehr die künstlerischen Highlights des Weltkinos an sich binden könne.
Nun soll solch ein großes A-Filmfestival, das mit seinen an die 500.000 Besuchern (wenn man alle Vorstellungen zusammenfasst) wohl das größte Publikumsfestival der Welt ist – was für sich genommen schon eine fürs Programm sprechende Leistung darstellt -, die wichtigsten momentanen Themen und Tendenzen der Weltkinematografie bzw. „Filmkunst“ beleuchten und zusammenfassen. Dabei wird das Filmgeschehen quantitativ immer umfangreicher und unübersichtlicher, was sich auch am parallel und in räumlicher Nähe zur Berlinale abgehaltenen European Film Market ablesen ließ; denn inklusive Market betrug die Anzahl der angemeldeten Filme insgesamt 6712 (2011: 6383 Filme). Hinzu kommt, dass das große Hollywood-Kino Dank seit seiner vor einigen Jahren erfolgten Vorverlegung der Oskar-Preisverleihung auf Ende Februar auch prominente „Potenzen“ vom Festival abgezogen hat. Man „klappert“ heute eben lieber im unmittelbaren Vorfeld der Academy-Feier am Sunset bzw. Hollywood Boulevard für seinen Film, als dass man sich mit seinen Stars ins winterlich ungemütliche Berlin locken lässt. Dass dazu die großen Weltvertriebe bei der globalen Platzierung und Terminierung der einzelnen Filme, auch bei den Festivals, eher das Sagen haben als wie früher die einzelnen Produzenten bzw. Regisseure, die sich oft gerne vom begnadeten Filmnetzwerker und Gute-Laune-Kommunikator Kosslick aufs Festival einladen ließen, tut ein übriges.

Viel Sehenswertes, aber nichts Herausragendes

Das heißt aber nicht, dass der Wettbewerb keine sehenswerten und bedeutenden Filme mehr zu bieten hatte. Bloß, das große „Kino-Feeling“, die Freude über einen außerordentlich gelungen Kinofilm wollte sich seltener und schwerer einstellen als früher, oder wird man im Laufe der Festivaljahre phlegmatischer? Voriges Jahr ließ der Goldene Bärengewinner und jetzt gerade mit dem Oskar belohnte iranische Film „Nadar und Simin“ so manche dröge oder enervierende Stunde im Festivalpalast zuvor oder danach vergessen. Ein solch herausragendes Werk gab es heuer nicht zu sehen. Aber in der Breite war das Wettbewerbsprogramm doch ganz gut besetzt.
Dem ungarischen Film „Csak a szél“ („Nur der Wind“) von Berenice Fliegauf hätte man den Goldenen Bären gegönnt. Die Geschichte bildet oberflächlich besehen einen ganz normalen Tag im Leben einer kleinen Roma-Familie in der ungarischen Provinz ab. Zwar sind Stigmatisierung und partielle Diskriminierung für die Betroffenen ständig präsent, doch scheinen jene, wie man begreift, gelernt zu haben, damit zu leben, auch wenn es mühsam ist. Die Mutter ermahnt die ältere Tochter, geht zur Arbeit, zuerst bei der Chaussee-Reinigung, dann als Putzfrau in einer Schule. Die Tochter besucht leicht körperlich und seelisch geduckt und immer passiv, zurückgenommen den Schulunterricht. Der jüngere Bruder schwänzt den nämlichen, streunt lieber durch Felder und Wälder. Alles sieht so ruhig und friedlich aus – und wirkt doch latent lebensbedrohlich für die Protagonisten. In der Nacht zuvor ist im Dorf eine Roma-Familie von Unbekannten ermordet worden. Auf dieser anfangs installierten Folie von rassistischer Einschüchterung und Bedrohung – es wird nur darüber berichtet und wir sehen später den Tatort mit den Augen des Jungen – verläuft der Sommertag, der später alle Hoffnung Lügen strafen wird. Die Tochter kommuniziert via Skype mit dem Vater in Kanada, der seine Familie schleunigst nachholen möchte. Auch der Sohn träumt davon, der leise schleichend prä-progromhaften Atmosphäre zu entfliehen, hat sich im Wald in einem kleinen kellerhaften Bunker ein heimeliges Versteck eingerichtet. Wie der Film so ruhig, trügerisch gelassen und relativ unspektakulär bedrohlich den Tag abspult und man die Angst um die Romas nicht los wird, bleibt noch lange in Gefühl und Gedächtnis.
Layos Sárkány in „Csak a szél“
Der Gewinner des Goldenen Bären „Cesare deve morire“ („Cäsar muss sterben“) ist zwar sehenswert, aber im Vergleich zum vorher erwähnten Film eher akademisch und trotz seines ausgefallenen Grundeinfalls kinematografisch nicht ungewöhnlich. Konventionell brillant geschliffenes Theater inszeniert und abgefilmt für die Leinwand. Gegeben wird mit viel Gefühl für gelungenes Pathos ein imponierendes Shakespeare-Spektakel in originaler Knastkulisse mit schweren Jungs aus allen (Sprach-) Landschaften des mediterranen Stiefels. Der Meuchelmord an Julius Ceasar gespielt von „schweren“ Jungs, die ihr Handwerk zu verstehen scheinen. Ein Leckerbissen für Italophile, pensionierte Lateinlehrer oder passionierte Laienbühnen-Spielleiter. Die im fortgeschrittenen „Greisenalter“ immer noch proper agilen Regisseur-Brüder Paolo und Vittorio Taviani brauchten wenig zu wagen und gewannen alles bei der Preisjury.
„Cesare deve morire“: Shakespeare im Knast
Bemerkenswert war der griechische Beitrag „Metéora“ von Spiros Stathoulopoulos. Eine Liebe zwischen orthodoxem Mönch und Nonne vor berückend dramatischer Natur- und Architekturkulisse der zwischen Himmel und Erde, auf hohen Sandsteinfelsen thronenden Klöster von Metéora, die zum Weltkulturerbe der Unesco zählen. Manche mäkelten hinterher von Kunsthandwerk, wegen der wieder und wieder in Szene gesetzten schönen Bilder von den kleinen Menschen in ihren dunklen Gewändern vor grandioser Natur. Traditionelle religiöse Riten und der Einklang mit der Schöpfung werden nur scheinbar durch das menschliche Verlangen konterkariert. Ungewöhnlich waren auch die eingeschobenen, man möchte fast sagen, griechisch-orthodoxen Comics, die in ihrem klaren zwischen Ikonenmalerei und naiver Volkskunst fabulierendem Stil eine Metaebene schufen, die viele Fragen spielerisch visuell beantwortete und den gesparten Dialog zwischen den Personen dann vollends verschmerzen ließ.
„Metéora“: eindrucksvolle Naturkulisse
„L’enfant d’en haut“ („Sister“) von Ursula Meier war sicherlich einer der besten Filme im Wettbewerb und erhielt verdient einen Silbernen Bären (Lobende Erwähnung). Ein zwölfjähriger Junge auf alpinem Beutezug im Zirkus eines Natur zerstörenden Massen-Skitourimus. Ein Sozialdrama im Dienstleister-Milieu vor dem Hintergrund einer wohlhabenden Freizeitgesellschaft. Der Junge klaut sich auf den Pisten und den alpinen Restaurants Skier und weitere Ausrüstungsgestände des Wintersports zusammen, „verhökert“ sie später routiniert. Er unterhält damit sich und seine bisweilen haltlose und sprunghafte Schwester, die sich später als seine Mutter entpuppt, das aber verheimlichen möchte. Sie lässt sich fast bindungsunfähig treiben, begreift ihre frühe Mutterschaft als persönliches Unglück und rechnet sich kinderlos mehr Chancen bei ihren potentiellen Verehrern aus. Der kleine Junge zeigt trotz seiner ausufernden kleptomanischen Neigung mehr Verantwortung und Rückgrat als seine sozial gestörte Mutter. Unvergessen ist und beklommen machte eine Herz zerreißende Szene, in der der Junge um die körperliche Nähe zu seiner Mutter betteln muss und sich das Kuscheln mit 200 Euro bei ihr erkauft.
Kacey Mottet in L’enfant d’en haut“

Versagen der Sprache – die deutschen Filme im Wettbewerb

Die deutschen Filme besetzten selbstbewusst ihre Plätze im Wettbewerb und fanden sehr viel Beachtung bei Kritik, Publikum und Jury. Herausragend war hier der mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnete Film „Barbara“ von Christian Petzold. Was auffällt, hier wie in den anderen deutschen Wettbewerbsfilmen, ist die Sprache, die nicht stattfindet, direkte Auskunft verweigert, sich in leere Formeln flüchtet oder in ihrer Kargheit erstarrt.
Ausdrucksvoll ist so z.B. das Schweigen der Ärztin Barbara und des übrigen Personals in Petzolds Film. Wir sehen eine pathologische Gesellschaft infiziert vom Stasi-Virus, dessen offensichtliche Symptome Überwachung, Vorsicht und Angst heißen. Sprache kann verraten oder verräterisch sein, nicht geahnte Folgen haben, weil sie auch unerwünschte Schlüsse zuließe. Nina Hoss, die durchaus den Silbernen Bären für die beste Schauspielerin verdient hätte, spielt Barbaras Auskunftsnegation in sturer Sprach- und Informationsverweigerung und trockenem Sarkasmus schmallippig, „beredt“ schweigend und ausdruckstark. In dieser Gesellschaft bleibt jeder eine Insel. Die Natur steht in einem deutlichen Kontrast zu dem versteinerten, aufoktroyierten sozialen Gefüge. Sie „erzählt“ unschuldig von ihrer immanenten Unbelastetheit. Der Wald als heimlicher Schutzort für verbotene flüchtige Schäferstündchen, der heftige Wind in den rauschenden Bäumen der Feldmark und den verbotenen Gestaden der Küste signalisieren mögliche Freiheit. Petzold schafft es, in einem Mikrokosmos der DDR-Provinz die Charaktere glaubhaft in ihrer Ambivalenz zu zeigen, ohne das Geschehen plakativ aufzubauschen oder mit hinzurätselnder Bedeutung zu überladen. Alle sind in Zwangssituationen, die zuvorderst sprachlos machen, aus denen es schwer ein Entrinnen gibt. Die in die Provinz zwangsversetzte Ärztin Barbara sucht stasi-überwacht die Möglichkeit zur Flucht in den Westen, ihr freundlicher Chef und Kollege André (Ronald Zehfeld) Vertrauen, Freundschaft und mehr; das drangsalierte, rebellierende Heimmädchen Stella (Jasna Fritzi Bauer) kämpft ums blanke Überleben – in des Wortes reinster Bedeutung. Das Geschehen entfaltet sich ruhig in seiner klaren Kompliziertheit, wird kaum von der kontrollieren wollendenden Sprache beherrscht. So vorgeblich einfach kann man einen guten Film machen: einfühlsam, gekonnt, mit viel Wissen für das richtige Maß in Handlung, Dialogen und Timing, mit guter Kamera und gutem Ton.

Nina Hoss in der Titelrolle in Christian Petzolds Film „Barbara“

„Was bleibt“ von Hans-Christian Schmid dagegen ist ein auf die Leinwand verirrtes Fernsehspiel, das in Thematik und Darstellung kaum Neues zum Althergezeigten hinzufügen kann. Allein die Stereotypen, die die einzelnen Familienmitglieder verkörpern, verdeutlichen schon die ganze Malaise. Der Vater (mit Bravour gespielt von Ernst Stötzner) ist ein wohlhabender, in den Ruhstand gehender mittelständischer Verleger, natürlich mit verheimlichter Geliebter, einer Buchhändlerin – klar bei seinem Beruf. Seine Ehefrau (Corinna Harfouch) ist eine sich um die Fassade mühende, Antidepressiva schließlich verweigernde Hausfrau, der nach allen scheiternden Emanzipationsversuchen nur noch die Flucht ins Nirgendwo bleibt. Die Söhne sind natürlich zwangsläufig erfolglos bzw. unbedeutend als Zahnarzt (Sebastian Zimmler) und als Schriftsteller (Lars Eidinger); verwöhnte, aber sensible „Kerlchen“ halt, die durchaus kämpfen. Lars Eidinger als schriftstellernder Sohn eignet sich mit seinem Kaum-etwas-Sagen, seinem verschämten leisen Lächeln ohne viele Worte hervorragend als Projektionsfläche für den Zuschauer. Er teilt wenig über sein zu vermutendes Wesen mit, bietet daher umso mehr Spekulationsmöglichkeiten, aber nicht für die Personen im Film, denn die sind nicht wirklich an den anderen interessiert. Und die Dialoge können das Personal für uns leider nicht wirklich „retten“. Dieses gebärt sich letztlich zu konstruiert und floskelhaft, schade um die exzellenten Schauspieler. Was bleibt, ist der dunkle deutsche Wald mit seinen hohen Wipfeln als mythischer Ort, in dem die beiden „Hänsel“ gemeinsam mit ihrem Vater vergeblich nach der zuvor so verschmähten Mutter suchen und einer dann in einem zweiten Anlauf noch einen für weitere Kritiker schön zu deutenden Traum geschenkt bekommt.
Corinna Harfouch in „Was bleibt“
Das sprachliche Zögern, Zaudern, Drumrumreden und Verschweigen in „Was bleibt“ ist auf Dauer nervtötend und ach so altbekannt. Gelobte Sensibilität des Drehbuchs entpuppt sich als Klischee. Jeder ist schwach, möchte nicht verletzen, vor allem nicht sich selber. Offenheit kommt immer zu spät oder ist vergeblich. Wir registrieren das Lavieren in der Sprache, das schon gewohnt Geäußerte, ja das bis zu einem gewissen Grade nur Alltägliche, nicht zu Konkrete in den Dialogen. Jedes zweite Wort wird nach bewährter Art der Berliner Schule, obwohl Regisseur Schmid doch gar nicht dazu zählt, nicht gesagt. Eine klassische deutsche Mittelstandsfamilie eiert um ihre typischen Probleme herum. Das Nichtverstehen untereinander als Programm ist nicht nur tragisch, sondern bisweilen banal, besonders, weil wir es schon tausend Mal in anderen Filmen gezeigt bekommen haben und wöchentlich in der einen oder anderen Form via Fernsehen erleiden dürfen. Es kommt schließlich zur finalen „Katastrophe“, und letztlich geht alles so weiter wie zuvor.
Der treffendere Titel „Vergebung“, denn um die handelt es sich eigentlich in dem Film von Matthias Glasner, war, so könnte man meinen, wohl schon durch Titelschutz für die gleichnamige Stieg-Larsson-Roman-Verfilmung blockiert. Und so heißt sein Film jetzt „Gnade“, was man bedeutungsmäßig mit Wohlwollen in Verbindung bringen kann, und was oft auch in Bezug zu religiösen Implikationen steht. Wohl gewollt hat Matthias Glasner sicherlich mit seinem in Norwegens Hammerfest in der winterlichen, täglich 24 Stunden dauernden Polarnacht angesiedelten Film. Was die Einbeziehung von grandioser Natur, „magischem“ Licht und nordischer Atmosphäre betrifft, ist ihm das auch vorzüglich gelungen. Originalsets und Kamera schlagen die Handlung um einiges. Dem nordischen Temperament ihrer Umge
ung angemessen schweigen sich die Hauptpersonen
fast die reine elendige Leere erreichend, bisweilen durchs Geschehen. „Skandinavische“ Sprachlosigkeit wacht über das ach so mächtige Schicksal. Aber Gott sei Dank gibt es dann zum Schluss in mitsommerlicher Idylle, pseudo-dokumentarisch vor tief stehender Sonne von der Kamera eingefangen, etwas, was keine Dialoge mehr braucht: „Erlösung und Gnade“ für die kleine deutsche Familie unter all den modernen, aber dennoch kernig gebliebenen Wikingern. Dass dieser Sprache entbehrende Epilog etwas an den Film, auch in seiner Bildästhetik, drangesetzt wirkt, ist noch das Geringste.
Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel in „Gnade“
Vorher wird der Zuschauer bald zwei Stunden in seiner Festivalgeduld „geplagt“. Das tragische Ereignis um einen zunächst durch Fahrerflucht kaum wahrgenommenen, dann vertuschten, letztlich durch unterlassene Hilfeleistung zu verantwortenden tödlichen Unfall lässt die Sprache versteifen, isoliert die Personen, die mit der Seele strampeln. Ohnmacht bringt die „Täterin“ und den durch Mitwisserschaft zum Komplizen gewordenen Ehemann teilweise zum Verstummen. Angst vor den Konsequenzen ihres Tuns lässt die Worte nur noch schwer wie Blei, formelhaft und hilflos trocken aus ihrem Mündern fallen. Birgit Minichmayr als Maria ringt und ringt mit sich selbst, beschwört und beschönigt. Worte kommen wie von Papier. Ehemann Niels (Jürgen Vogel) glotzt vor sich hin, starrt stumm, erstarrt bis zur Verhärtung und gewinnt so eisige, wortlose Fassung. Das Ganze quält sich inklusive seiner sensiblen, wenn auch nicht immer unbedingt spannenden Nebenhandlungen bisweilen auf der Stelle. Glasners Drehbuch (verfasst von Kim Fupz Aakeson) übertreibt oder untertreibt, fast mit Freude, möchte man meinen, fordert, trifft aber trotz guter Schauspieler nicht immer ins Ziel. (Helmut Schulzeck)
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