62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012

Und extrem aufdringlich

„Extremely Loud and Incredibly Close / Extrem laut und unglaublich nah“ (Stephen Daldry, USA 2011)

Als extrem laut und unglaublich nah haben auch entferntere Zeugen den Einsturz der Zwillingstürme erlebt. Mit Stephen Daldrys Drama ist man näher dran als je zuvor. Ohr an Ohr.
Am 11. September 2001 hört Oskar Scheller daheim einige Nachrichten ab, die sein stets anspornender, lustiger und lieber Vater (folgerichtig besetzt mit Tom Hanks) auf dem Anrufbeantworter hinterließ. Er rief aus dem 104. Stock des World Trade Centers an. Sechs Liebesbotschaften, jede davon eine Tapferkeitsmedaille wert. Verteilt auf die 130 Filmminuten bilden sie das Grundgerüst des Films.
Um dem Widersinn des Verlusts einen Sinn abzutrotzen, begibt sich Oskar auf eine Expedition. Immer schon hatte sein Vater ihm mit „Expeditionen“ die Augen für die Welt geöffnet. Und wer weiß, vielleicht ist der Schlüssel, der Oskar beim Stöbern in Vaters Schrank aus einer blauen Vase in die Hände fällt, der Schlüssel zu ganz vielen Fragen. Auch ein Umschlag ist dabei. Mit einem Namen drauf: Black. Um das Schloss, die Antwort und den Sinn zu suchen, klappert Oskar fortan alle New Yorker Träger des Namens „Black“ ab. Es sind 472.
Vielleicht lassen sich andere Formulierungen finden, um den Plot zu umreißen. Fraglich, ob sich dadurch das Hanebüchene der Konstruktion verhehlen ließe. Man hätte denken mögen, der Autor der literarischen Vorlage, Jonathan Safran Foer, hätte sich etwas originelleres als einen magischen Schlüssel ausgedacht, als man ihm, dem neuen Star am Bestseller-Himmel („Alles ist erleuchtet“) eine Million Dollar Vorschuss für „Extrem laut und unglaublich nah“ gab. Dafür darf Großliteratur erwarten, und deshalb erinnert Oskar Schell auch ein wenig an Oskar Matzerath. Was dem einen die Blechtrommel, ist dem anderen der Schellenkranz, die ihm unnütz rasselnd an der Rechten hängt. Und wohl deshalb taucht auch ein verstummter Großvater auf (Max von Sydow), der Oskar ein Stück weit begleitet und dessen traumatische Wurzeln im Holocaust liegen. Welchen Sinn diese Anspielungen haben sollen, bleibt unklar.
Die Verfilmung zumindest wirkt, als sei ein dürrer Stamm mit Lametta verblendet worden. Angelagert ist eine Tendenz zum Autismus, das aus dem Knaben Oskar eine altkluge Rotznase macht, der mit Kolonnen aus Zahlen und Detailkenntnissen amüsiert und alle Welt, zumindest alle fünf New Yorker Bezirke, über seine Ängste informiert. Thomas Horn spielt Oskar in einer Weise glaubwürdig, dass man Angst um ihn hat – zumal Sandra Bullock ihm bescheinigte, er sei am Set „erschreckend professionell“.
Eine Art Oskar Matzerath: Thomas Horn und Sandra Bullock in „Extremely Loud and Incredibly Close“ (Foto: Berlinale)
Ja, Sandra Bullock spielt auch mit. Als Mutter. Als eine Mutter, die scheinbar den Draht zum vaterfixierten Sohn verloren hat, bis man erfährt, dass sie dessen Expedition heimlich minutiös präparierte. Die Fürsorge (und ihr sechster Sinn, das Vorgehen des Sohnes zu ahnen) sollen so sehr rühren, dass man vergisst, dass sie Oskars Schritte in die Selbständigkeit damit letztlich zuschanden macht.
Das übersieht man vielleicht nur, weil Regisseur Stephen Daldry (erfahren in der Initiation von Knaben, siehe Tänzer „Billy Elliott“ und der die Liebe lernende „Vorleser“) Wasser in unsere Augen treibt. Sein Film ist eine Presse, Daldy keltert Tränen. Denn da sind ja immer die Anrufe, die letzten, allerletzten Lebenszeichen, die diesem New Yorker Streifzug eine historische Dimension geben sollen. Sogar einen vom WTC fallenden Mann hat Oskar aus dem pixeligen Videomaterial herauskopiert, den er als seinen Vater identifiziert. Das geht natürlich unglaublich nah …
Diese seltsame Indiskretion ist neu. Direkt nach dem Anschlag war das World Trade Center filmisch tabu. Auch aus Pietät wurde es nicht in die Unterhaltungsindustrie eingespeist. Selbst Oliver Stones Katastrophenfilm „World Trade Center“ mit Nicolas Cage blieb ja vorwiegend im unterirdischen Inferno. Es gab eine Art filmischer Karenzzeit, die das Rührstück „Extrem laut und unglaublich nah“ extrem aufdringlich beendet. Aber der Sinn? Der Sinn, dem Oskar in manischer Versessenheit nachjagt, mag darin liegen, nach traurigen Ereignissen den Mut zu finden zu weinen. Ach je. (Gerald Koll)
„Extremely Loud and Incredibly Close / Extrem laut und unglaublich nah“, USA 2011, 129 Min., Regie: Stephen Daldry, Darsteller: Thomas Horn, Tom Hanks, Sandra Bullock, Max von Sydow u.a.
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