60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Panorama

Ein Vater dreht durch

„Paha perhe / Bad Family“ (Aleksi Salmenperä, Finnland 2010)

Manchmal holt einen die Vergangenheit ein. Mikael Lindgren, gut situierter Berufungsrichter in der finnischen Hauptstadt, lebt in seiner großzügigen Altbau-Stadtwohnung ein gutbürgerliches Familienleben. Zur Familie gehören seine Frau Laura, der gemeinsame 10-jährige Sohn Milo, der 18-jährige Daniel, Mikaels Sohn aus einer vorherigen Beziehung, und der greise Alzheimer-kranke Großvater. Völlig unerwartet kommt ein neues Familienmitglied hinzu: Tilda, wenige Jahre älter als Daniel und das erste Kind aus der Beziehung mit Daniels Mutter, die überraschend verstorben ist und bei der die Tochter bisher lebte. Tilda, die eine quasi unbefristete Mitwohnerlaubnis bekommt, und ihr Bruder Daniel verstehen sich sofort auffällig gut und entwickeln eine besondere Nähe zueinander: Sie übernachten sogar im selben Zimmer. Ein wohlmeinender Freund vermutet Inzest und warnt Mikael sofort. Dieser fackelt nicht lange und ergreift eine Reihe von immer maßloseren Maßnahmen, um seine Kinder zur Vernunft zu bringen. Dabei ist noch gar nicht erwiesen, wie weit Tildas und Daniels Beziehung wirklich geht …
Bezichtigt seine Tochter des Inzests, Ville Virtanen als durchdrehender Vater in „Bad Family“ (Foto: Berlinale)
Die Story mag nach einem Verbotene-Liebe-Stoffklingen, aber tatsächlich steht das Charakterdrama des Vaters im Vordergrund. Obwohl für den Regisseur Aleksi Salmenperä, der auch das Drehbuch verfasste, das Tabuthema Inzest den Ausgangspunkt darstellte. Tabus interessieren ihn generell: So handelt Salmenperäs vorheriger Spielfilm „A Man’s Work“ (2007), für den er für den finnischen Filmpreis nominiert wurde, von einem Mann, der sich prostituiert. Dass „Bad Family“ sich nicht zwischen Sensationslüsternheit und Erotikkitsch bewegt, ist auch das Verdienst keines Geringeren als Aki Kaurismäki. Seine Firma Sputnik hat das Werk produziert, und in den Vorgesprächen habe Aki eine Bedingung gestellt, berichtet Salmenperä: Er wolle im Film keine Sexszenen zwischen den Geschwistern sehen. Ein guter Ratschluss, denn so bleibt die wahre Beziehung zwischen Tilda und Daniel der Fantasie des Zuschauers überlassen. Die Vorstellungskraft des Vaters Mikael hingegen geht in eine einzige, eindeutige Richtung und veranlasst ihn zu grotesken, lächerlichen, hysterischen und sogar verbrecherischen Maßnahmen. Seine restliche Familie hat er, um frei schalten und walten zu können, kurzerhand „entsorgt“: Laura und Milo werden ins Hotel, der Großvater hingegen in ein Pflegeheim einquartiert. Die Gründe der Einsamkeit, in die sich Mikael schließlich manövriert, scheinen schon Jahrzehnte zuvor gelegt worden zu sein.
Die Kommunikationsunfähigkeit finnischer Männer schwinge in „Bad Family“ besonders mit, meint Hauptdarsteller Ville Virtanen. Tochter Tilda, geheimnisumwoben gespielt von European Shooting Star 2010 Pihla Viitala, und Sohn Daniel (minimalistisch echt: Lauri Tilkanen), holen die Nähe, die sie als Kinder nicht haben durften, nach. Eine Familie ist nun mal heute das Großartigste auf Erden, morgen aber schon das Furchtbarste, meint Aleksi Salmenperä, selbst Ehemann und Vater dreier Kinder.
In Finnland läuft „Bad Family“ seit Ende Januar in den Kinos; laut Aleksi Salmenperä mit guten Kritiken, aber entwicklungsfähigem Besucherzuspruch. „Bad Family“ soll übrigens eine Tragikomödie sein: Vielleicht ist diese Einordnung auf einen speziellen finnischen Humor zurückzuführen – als Mitteleuropäer sieht man wohl eher ein Charakterdrama. (gls)
„Paha perhe / Bad Family“, Finnland 2010, 95 Min., 35mm, Buch, Regie: Aleksi Salmenperä, Kamera: Tuomo Hutri, Schnitt: Samu Heikkilä, Ton: Tero Malmberg, Produzent: Aki Kaurismäki, Darsteller: Ville Virtanen, Pihla Vitala, Lauri Tilkanen, Vera Kiiskinen, Tomi Salmela, Ismo Kallio, Niki Seppälä.
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