Ein neuer Geist befruchtet die Berliner Filmfestspiele
Berlinale 2002. Sonnenschein am Potsdamer Platz, draußen und drinnen in den Kinos. Das beste Festival seit Jahren. Bewährtes, Allbekanntes wurde nicht über Bord geworfen. Dennoch schien vieles anders.
Unter der Leitung der neuen Festivaldirektoren Dieter Kosslick (Wettbewerb) und Christoph Terchechte (Forum) wehte ein neuer Wind im “Kinoviertel” auf der Hochhausinsel in der Mitte Berlins. Teamwork, Offenheit und Integration waren angesagt. Dieser inhaltliche und vor allem atmosphärische Quantensprung belebte des gesamte Festival.
Aufbruchstimmung und ein Willkommen für den Deutschen Film wie schon seit Jahren nicht mehr. Die Zeiten, in denen ein Moritz de Hadeln vor allem den US Major Companies eine willkommene Startrampe für den Kinostart ihrer Hollywood-Produkte in Deutschland bot, scheinen vorbei. Vieles andere war wie jedes Jahr da, z.B. die besondere Pflege der asiatischen Filme. Und doch: nichts schien mehr so wie in den Jahren zuvor. Aller Orten war ein gesteigertes Wohlwollen für der europäischen Autorenfilm und besonders für die seit Jahren vom Wettbewerb stiefmütterlich behandelten deutschen Filme zu spüren und zu erfahren.
Was Cannes schon immer seinen französischen Filmen bot und Venedig seinen italienischen Produkten, nämlich einen gewissen Standortvorteil für ihre einheimischen Neuerscheinungen, was sich dort in besonderer Aufmerksamkeit und Pflege auch und gerade im Wettbewerb dokumentiert, das scheint nun endlich nach Jahren des Haderns der alten Wettbewerbsleitung unter de Hadeln mit einem Großteil der deutschen Branchen-Klientel und der deutschen Filmkritik wieder möglich. Eine offene vertrauensvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten zum Vorteil aller: der Filmemacher, des Berlinale-Programms und somit auch der Festival-Besucher.
Viele Hollywood-Stars, auf deren Besuch man an der Spree gehofft hatte, kamen dann doch nicht. Aber vermisste man sie wirklich? Die Aufmerksamkeit, besonders auch der Boulevard-Presse, stürzte sich dann natürlich auf die verbliebenen, die gelassen und souverän ihre Ernte einfuhren. Robert Altman mit seinem sehenswerten neuen Film “Gosford Park”, der den Goldenen Ehrenbären verliehen bekam, Kevin Spacey (in “The Shipping News” von Lasse Hallström), Russell Crowe (in “A Beautiful Mind – Genie und Wahnsinn” von Ron Howard), Harvey Keitel (in “Taking Sides – Der Fall Furtwängler” von István Szabo).
Sehenswert: Robert Altmans “Gosford Park”
Die europäische Kinogarde war glänzend präsent. Ob mit Paul Greengrass und seinem hinreißend und packend inszenierten irischen Bürgerkriegsdrama “Bloody Sunday” (Gewinner des Goldenen Bären), Otar Iosseliani mit seiner witzigen, z. T. urkomischen Bildungsreise eines über- und zugleich unterforderten Familienvaters aus der französischen Provinz in “Lundi Matin”, oder Costa Gavras mit seiner umstrittenen Verfilmung des Hochhuth-Dramas “Der Stellvertreter” über die Mitschuld von Papst und Vatikan am Holocaust durch Untätigkeit wider besseres Wissen.
Claudia Cardinale (bekam einen Goldenen Ehrenbären für ihr Schaffen), Catherine Deneuve, Isabelle Huppert, Fanny Ardant (alle drei und noch andere wunderbare Frauen mit Gesang in dem glänzenden Unterhaltungsfilm “8 Femmes” von Francois Ozon), Cate Blanchet (in “Heaven” von Tom Tykwer und “Shipping News”) und Juilanne Moore (ebenfalls in “Shipping News”) taten ein übriges, das Festival mit ihrer Anwesenheit zu bereichen und zu verschönern.
Glamour und Goldener Ehrenbär (überreicht von Mario Adorf): Claudia Cardinale (Foto: Schulzeck)
Die Retrospektive war dieses Jahr dem Europäischen Autorenkino der 60er Jahre gewidmet. Natürlich feierte man Alexander Kluge, der 70 Jahre alt wurde, hier und auch im Festivalpalast (dort mit einer Gala für “Die Patriotin”) mit Aufführungen von etlichen seiner Filme.
Interessant, um nur ein typisches Beispiel aus der Retro herauszugreifen, “Zeit der Träumerei” von István Szabo aus dem Ungarn Mitte der 60er Jahre und der Vergleich mit seinem heutigen Schaffen. Szabo spiegelt und verarbeitet sehr sensibel Stimmung und Situation der damaligen Zeit zwischen Aufbegehren und Vergeblichkeit. Und überrascht mit dokumentarischen Aufnahmen vom Ungarn-Aufstand 1956 – und das in einem Ostblock-Film von 1963/64.
Ärgerlich, dass viel zu wenige Kurzfilme z. B. der “Oberhausener” in der Retrospektive präsent waren – wo doch gerade sie die Anfänge des neuen Autorenkinos der 60er Jahre ausmachen. Auch die äußert mangelhafte Begleitung durch das Buch zur Retrospektive, das offenbar vor Erstellung des Programms geschrieben wurde, verstimmte. Mit keinem Wort wird hier z. B. auf so einen wichtigen Film wie den oben erwähnten von Szabo eingegangen. Eine Chance wurde vertan, Unbekanntes anhand der gezeigten Filme nahe zu bringen und damit zugleich ein wichtiges Kapitel der Filmgeschichte aus heutiger Sicht im Lichte der gezeigten Filme aufzuarbeiten. Da hilft dann auch kein Layout-Schickschnack bei den Illustrationen mehr. Nächstes Jahr voraussichtlich wieder in dieser Programmsektion eine Murnau-Retro. Hatten wir ja noch nie bei der Berlinale. Aber das können sie dann wenigstens.
Alles in allem war es in diesem Jahr ein wirkliches Vergnügen, das Festival zu besuchen. Die Festivalleitung nutzt geschickt die Möglichkeiten des behutsamen Wandels, hält aber erfreulicherweise auch am Bewährten fest. Resultat: Man fühlte sich wohl, pendelte gelassen zwischen Festival-Palast, CinemaxX-Multiplex, CineStar-Kinos und dem neuen Arsenal hin und her, freute sich aber auch alte Vertraute wie das Delphi in der Kantstraße, Zoopalast und Royal Kino in der Tauenzien wiederzusehen.
Die Kommunikation zwischen Filmern, Presse und übrigen Besuchern funktionierte. Und das beglückende Wiedersehen mit Filmen wie “Amadeus” von Milos Forman im Directors Cut und Charlie Chaplins “Der große Diktator” in restaurierter Fassung (zum Abschluss im Festivalpalast) rundeten die Berlinale auf das Vorzüglichste ab.
Helmut Schulzeck