56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006
… dann leben sie noch heute
„Und wenn sie nicht gestorben sind … Die Kinder von Golzow“ (Barbara und Winfried Junge, D 2006)
Gut viereinhalb Stunden Sitzfleisch verlangen Barbara und Winfried Junge dem Forum-Publikum ab. Und erstaunlich, auch nach der Pause am Ende des zweistündigen ersten Teils des mittlerweile 19. Teils (10 davon wurden seit 1982 im Forum der Berlinale gezeigt) ihrer filmischen Langzeitbeobachtung, die 1961 mit den Erstklässlern einer Grundschule im Oderbruchdorf Golzow begann und im nunmehr 45. Jahr die längste der Filmgeschichte ist, sind die Kinoreihen noch sehr gut gefüllt.
Das mag einerseits daran liegen, dass es sich um ein dokumentarisches Ausnahmeunternehmen handelt, andererseits am Charme des Dokumentarismus alter Schule und seinem authentischen Humor, nicht zuletzt aber auch daran, dass die unvoreingenommene, sich allem Exemplarischen enthaltende Schilderung von DDR-Biografien sonst Seltenheitswert im deutschen Dokumentarfilmschaffen hat. Zudem, so verraten Insider, haben die Junges in Berlin eine ganze Reihe von echten Fans ihres Golzow-Projekts.
Fünf Lebensläufe der heute rund 50-jährigen werden diesmal unter Einbeziehung der Aufnahmen aus früheren Golzow-Filmen (aber auch darin bisher unveröffentlicht gebliebenem Material) erzählt: Jürgen, der eine Maler- und Tapeziererlehre machte und heute als Staplerfahrer im Lager eines Baumarkts arbeitet, Petra, die frühere Klassenbeste, die nicht wunschgemäß Medizin studieren konnte, sondern „nur“ Bauingenieurin wurde, Christian, der Schlosser, der „mit Anpassen und Umpassen nie ein Problem hatte“ und heute Museumswärter in der Berliner Kreditanstalt für Wiederaufbau ist, Ilona, die Elektronikfacharbeiterin, die später in der FDJ-Kreisleitung eine führende Position einnahm, und Winfried, der begabte Elektronikingenieur und „Parteisoldat“.
„Parteisoldatin“ mit Problemen: Ilona (Foto: Progress Film-Verleih)
Fünf Lebensläufe, die Brüche und Enttäuschungen aufweisen, fünf Menschen, von denen einige irgendwann die Zusammenarbeit mit dem Filmteam verweigerten, sei es aus Scham vor dem (vermeintlichen) Scheitern ihrer Biografien, sei es aus Furcht, die filmische Veröffentlichung von Teilen ihres Lebens werde wiederum auf dieses zurückwirken. Mehr als in den früheren Golzow-Filmen thematisieren die Junges in „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ den Akt des Dokumentierens und wie dieser in die dokumentierten Leben eingreift. Eine Art dokumentarische „Unschärferelation“, wonach die Beobachtung Einfluss auf das Beobachtete hat – wie in der Physik, wo die Messung des Impulses eines Elementarteilchens diesen verändert. Die begleitende Kamera wird zur biografischen Kontrollinstanz. Am deutlichsten wird das bei Winfried: Als er Anfang der 80er Jahre noch während seines Studiums in die Produktion ging und die Junges dies dokumentierten, flog auf, dass Winfried sich sein Diplom quasi erschlichen hatte, was dem Parteigenossen eine ernste Parteistrafe einbrachte. Auch wie er die „abarbeitet“, dokumentierten die Junges minutiös – und fragten schließlich nach, ob ihm das peinlich sei. Winfrieds überraschende Antwort: „Wenn der Film nur die guten Seiten von jedem zeigt, ist er doch am Ende unrealistisch.“ Das könnte ein Credo für das dokumentarische Unternehmen der Junges sein. Andere wie etwa Petra oder Ilona verweigerten diesen Eingriff des Filmischen in ihr Leben nach einigen Jahren, ihre Spur verliert sich noch vor der Wende.
Wie man überhaupt fragen könnte, ob über die Kinder von Golzow nicht inzwischen genug erzählt sei. Barbara und Winfried Junge haben den jüngsten Teil der Golzow-Polylogie mit „Das Ende der unendlichen Geschichte“ untertitelt. Richtig ernst nehmen mag man das nicht, denn authentische Lebensgeschichten enden erst, wenn ihre Protagonisten wirklich gestorben sind. Und so lässt das unvollständige Märchenende-Zitat vermuten – und wegen der fesselnden Alltäglichkeit der erzählten Schicksale auch hoffen, dass es noch einen 20. Teil vielleicht mit dem Titel „… dann leben sie noch heute“ geben wird. Demnächst in diesem Berlinale-Theater der dokumentierten Wirklichkeit … (jm)
Und wenn sie nicht gestorben sind … Die Kinder von Golzow, D 2006, 274 Min., 35 mm. Buch, Regie: Barbara und Winfried Junge.