David Lynch, Jahrgang 1946, zählt zu jenen Filmregisseuren und Künstlern, für die kein Label gefunden werden kann – abgesehen von ihrem eigenen Namen. In seinem Filmschaffen, das er als Kunststudent aus der plastischen und bildnerischen Arbeit heraus experimentell entwickelte, vermeidet er die traditionellen Erzählformen des kommerziellen Kinos: Weder ERASERHEAD noch THE ELEPHANT MAN funktionieren wie klassische Horrorfilme, WILD AT HEART geht kaum als typisches Roadmovie durch; und im gleichen Maße, wie BLUE VELVET stereotype Muster des Highschool- und Familiendramas aufbricht, so bürstet DUNE die Erwartungshaltungen an ein Science Fiction-Epos gegen den Strich. TWIN PEAKS schließlich, jenes sich über mehrere Jahrzehnte und mediale Grenzen hinweg entfaltende TV-Serien-Opus, sprengte die bis dahin üblichen Grenzen der TV-Unterhaltung.
David Lynchs Filme sind unverwechselbar eigenständig; die Geschichten, die sie uns erzählen, und die Welten, in denen sie spielen, sind bei allen Unterschieden immer Lynch durch und durch. Lynch ist nicht „wie andere“, sondern im Gegenteil: Andere, die ihm nachfolgen, sind wie Lynch. Aber Lynch bleibt das Original.
Diese Originalität wird oftmals mit Zuschreibungen wie „(alp-)traumhaft“ oder „surreal“ in Verbindung gebracht. Aber diese Etiketten treffen nicht den Kern – zumindest dann nicht, wenn damit gemeint ist, dass die filmischen Welten traumhaft oder surreal wären und ihre Eigengesetzlichkeiten ins Irreale weisen würden. Lynchs Welten mögen durchaus seltsam sein, unvertraut und irgendwie fremd. Sie sind „strange“, wie es in der berühmten Szene in BLUE VELVET heißt, in der Jeffrey und Sandy einen abendlichen Spaziergang unternehmen. Aber – und das ist der Punkt – das Seltsame der Welt liegt im Auge des Betrachters. Lynchs Filme verhandeln nicht bloß verstörende Weltzustände, sondern mindestens ebenso die Verstörung im Erleben einer Welt, die wir so noch nie gesehen haben.
Die Lynch’schen Helden (und wir Zuschauende mit ihnen) betreten die Welt wie Neugeborene: hineingeworfen in eine Umgebung, die ihnen fremd ist und die sie staunend durchwandeln. Nicht von ungefähr setzen die filmischen Erzählungen oftmals damit ein, einen Urgrund zu entwerfen: den Kosmos, das All, die Natur, die Gebärmutter; und der wummernde Grundton, den wir so oft in Lynchs Filmen hören, ist wie der Nachhall jenes Hintergrundrauschens, das uns umgab, als wir noch ungeboren und geborgen waren.
Vor diesem Hintergrund muss Alles fremd erscheinen. Bei genauerem Hinsehen aber erscheinen uns die Dinge doch nur allzu vertraut – zumal im Kino: Es geht um die Untiefen im familiären Miteinander, es geht um Verbrechen und Verrat, um Inzest und Vergewaltigung, um Missbrauch und Misshandlung, und schließlich auch um die Suche nach Höherem, die vordergründig wie ein Wunsch nach kompromissloser Liebe und Freiheit aussieht. Das alles aber hat, genau genommen, gar nichts mit Alpträumen und ir- oder surrealen Positionen zu tun. Im Gegenteil: David Lynch erzählt beinahe alltägliche Geschichten, wie sie sich überall und jederzeit zutragen können. Nur: Das Empörungspotential ist sehr viel höher. Hier ist der Kindesmissbrauch nicht die kleine Meldung im hinteren Zeitungsteil, sondern steht im Zusammenhang mit einer Weltstörung größten Ausmaßes. Bei Lynch bringen die Umtriebe eines Drogenkartells die Idylle einer Kleinstadt ins Wanken, und das Eifersuchtsdrama um den neurotischen Musiker und seine Ehefrau setzt das Raum-Zeit-Kontinuum außer Kraft. In dieser Hinsicht verhilft Lynch dem Bösen zu seinem Recht: Die Untat des Schurken und der dunkle Trieb sind nicht kinogerechte Unterhaltung mit kurzer Halbwertzeit, sondern sie stören die kosmische Harmonie und versetzen die Welt in taumelnde Unruhe.
Diese durchaus naive Grundhaltung ist uns Zuschauenden nicht vertraut. Wir haben sie abgelegt, haben sie überwunden im Erwachsen-geworden-Sein. Was den Blick irritiert, wird ausgeblendet und verdrängt. Lynchs Kino hingegen insistiert darauf, jenes Ausgeblendete in den Kreis der Aufmerksamkeit zurückzuziehen. Daher auch sein Faible für das Missgestaltete, für die Deformation, für das Alter und für den Blick hinter die Oberfläche. Denn diese Ansichten sind nicht wegzudenkender Teil des großen Ganzen. Wer sich auf Lynchs Ästhetik einlässt, erkennt ihre ornamentale Qualität und begreift die innere Logik, der das nur oberflächlich chaotisch anmutende Lynch’sche Universum folgt. Und mehr noch: Lynchs Blick auf die Welt ermöglicht uns die Erfahrung, das Abstoßende zu akzeptieren und die ihm innewohnende Schönheit zu erkennen – ganz so wie in John Merrick, dem bedauernswerten Elephant Man, der sich als eine der liebenswertesten Figuren erweist, von der David Lynch uns erzählt. In diesem Sinne arbeitet David Lynch einem Weltbild zu, das alle Potentiale wieder miteinander vereint – das Schöne und das Hässliche, das Produktive und Destruktive, das Alltägliche und das Wunderbare.
Das Kino in der Pumpe lädt Sie ein, David Lynchs Kosmos zu betreten – erneut oder erstmalig. Vom 16. Oktober 2024 bis zum 8. Februar 2025 zeigen wir alle Kinospielfilme auf großer Leinwand. Willkommen in der Welt des David Lynch! (Eckhard Pabst, Kino in der Pumpe)
Grußwort vom Verein Filmkultur SH
Mit dem Kino in der Pumpe verbindet uns, Filmkultur Schleswig-Holstein e.V., eine langjährige Partnerschaft. David Lynch steht für ein mutiges, visionäres Autorenkino, das Filmtraditionen erkennen lässt, aber schon von den ersten Arbeiten an kompromisslos eine eigene, unverwechselbare Handschrift zeigt. Mit seinem während seines Filmstudiums enstandenem Erstling ERASERHEAD hat er bewiesen, dass man mit geringsten finanziellen Mitteln ein geschlossenes Universum schaffen kann, das, hat man es einmal im Kinosaal erlebt, den Zuschauer nie mehr entlässt. BLUE VELVET ist vielleicht der wichtigste Film der Achtziger Jahre, der das Genre-Kino mit einer ungewohnten Sensibiltät vereinte und wiederbelebte. Die Inspiration, die Filmemacher:innen aus seinen frühen Filmen zogen, kann man gar nicht überschätzen. Mit besonderer Freude unterstützen wir deshalb die David Lynch Retrospektive, auch mit Original-Kinoplakaten aller Filme, die das Erlebnis seiner Filme im Kino abrunden. Wir freuen uns auf Ihren Besuch! (Daniel Krönke, Filmkultur SH e.V.)
Programm David Lynch Retrospektive – Oktober 2024 bis Februar 2025:
- ERASERHEAD: Mi 16. Okt 19:00 Uhr
- THE ELEPHANT MAN: So 27. Okt 18:30 Uhr
- DUNE: Mi 13. Nov 19:00 Uhr
- BLUE VELVET: Mo 18. Nov 19:00 Uhr
- WILD AT HEART: Do 28. Nov 19:00 Uhr
- TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME: Mi 18. Dez 19:00 Uhr
- TWIN PEAKS-Nachmittag: So 5. Jan 15:30 Uhr
- LOST HIGHWAY: Do 9. Jan 19:00 Uhr
- THE STRAIGHT STORY: So 12. Jan 17:00 Uhr
- MULHOLLAND DR.: Mi 29. Jan 19:00 Uhr
- INLAND EMPIRE: So 9. Feb 18:00 Uhr
Veranstalter: Kino in der Pumpe – Kommunales Kino Kiel.
Kooperation: Filmkultur SH e. V.
Texte: Eckhard Pabst, David Schepers, Willem Strank
Recherche Filmrechte und Kopien: David Schepers
Kataloggestaltung: Eckhard Pabst
Eintritt: € 9,00. TWIN PEAKS-Nachmittag: Eintritt frei.
(nach einer Mitteilung des Kinos in der Pumpe)