100 Jahre Geschichten erzählen – das muss gefeiert werden! Die Walt Disney Animation Studios (WDAS) sind seit ihren Anfängen 1923 als Disney Brothers Cartoon Studio weit gekommen. Und genau das wurde auf der 73. Berlinale mit zwei Sondervorstellungen honoriert. In den Sektionen Generation Kplus und Berlinale Special zeigte das Filmfestival die digital restaurierte Version des 1950er Klassikers „Cinderella“ sowie eine eigens für die Berlinale zusammengestellte Auswahl an zehn Kurzfilmen. Letztere wurde am 20.02.2023 vor rund 800 Personen vorgeführt.
Der Kinosaal im Haus der Berliner Festspiele ist gefüllt mit Menschen verschiedener Generationen und Herkünfte für die Vorstellung der Disney Shorts. Viele sind mit ihren Kindern gekommen, um ihre Freude an Animation zu teilen und in Erinnerungen zu schwelgen. Bevor die Vorstellung beginnen kann, wird ein Überraschungsgast auf die Bühne gebeten: Clark Spencer, zweifacher Oscargewinner und Präsident der WDAS. Spencer führt die Gäste durch die Vorstellung, erzählt von Disneys Entwicklung als Animationsstudio und erklärt die Auswahl der gezeigten Filme. Aus über 500 animierten Kurzfilmen wurden zehn auserkoren, die die technischen Meilensteine ihrer Zeit am besten darstellen können.
Die ersten vier Filme stammen aus der Zeit zwischen 1920 und 1930 – Walt Disneys Anfänge als Animator mit dem klassischen American Dream Background: ein Mann mit einer Vision in der Garage seiner Eltern. Frisch für die Berlinale aufgearbeitet gibt es zum Einstieg Walt Disneys‘ „Laugh-O-Gram: Cinderella“ von 1922 zu sehen. Noch ohne synchronen Ton, dafür mit humorvoll gefüllten Sprechblasen, zeigt der Film einen rekordverdächtigen Schnelldurchlauf der klassischen Cinderella Geschichte. In „Alice’s Wonderland“ (USA 1923), dem ersten Kurzfilm aus der Alice-Reihe, werden Animation und Realfilmaufnahmen kombiniert. Abgerundet wird der erste Block von zwei Features mit synchronem Ton: „Trolley Troubles“ (USA 1927) mit Disneys erstem großen Protagonisten Oswald, und dem berühmten „Steamboat Willie“ (USA 1928), dem ersten Film mit Micky Maus in der Hauptrolle.
Der zweite Abschnitt beginnt mit einem weiteren großen Fortschritt: Farbanimation. Ausgewählt sind die Filme „The Clockcleaners“ (USA 1937), „The Old Mill” (USA 1937), „Donald Duck Trailer Horn” (USA 1950) und „Lambert the Sheepish Lion” (USA 1952). Insbesondere „The Old Mill“ bereitet hier den Weg für neue Animationstechniken. Der Kurzfilm war als Test für Disneys ersten feature-length Animationsfilm „Schneewittchen und die Sieben Zwerge“ (USA 1937) produziert worden und nutzte als erster die Multiplan-Kamera für einen dreidimensionalen Effekt.
Abgeschlossen wird das Programm von zwei jüngeren Kurzfilmen aus den 2010-20ern. Der Sprung im technischen Fortschritt ist deutlich zu erkennen. Beide Filme machen Gebrauch von Computer Generated Images, behalten aber ihren zeichnerischen Charakter bei: „Paperman“ (USA 2012) und „Going Home“ (USA 2021). Ersterer verwendet erstmals die Meander-Technik, in der 2D-Zeichnungen mit der Dimensionalität von CG-Animation verbunden werden, und hatte 2013 den Oscar für den besten animierten Kurzfilm erhalten. Letzterer ist vom deutschstämmigen Jacob Frey und erzählt ganz ohne Worte von Veränderungen und Neuanfängen.
Über die Vorstellung hinweg zeichnet sich nicht nur eine beeindruckende Entwicklung in der Animationsgeschichte ab, es wird auch deutlich, wie hervorragend das Medium Emotionen transportieren kann. Egal ob Schadenfreude über Donalds Eskapaden gegen Chip and Chap, Unbehagen beim Sturm, der die Mühle einzureißen droht, oder bittersüße Melancholie, wenn man die eigenen Eltern altern sieht. Kaum eine andere Kunstform kann Bild und Ton so bewegend zusammenbringen.
Auch Spencer erzählt von seiner Liebe zur Animation und seiner eigenen Entwicklung bei Disney. Seit 30 Jahren ist er schon Teil der WDAS und war unter anderem an Filmen wie „Lilo & Stitch“ (USA 2002) und „Encanto“ (USA 2021) beteiligt. Stolz erwähnt er auch das Programm Short Circuit, das es allen Angestellten der WASD ermöglicht, anonym Filmideen einzureichen, die mit etwas Glück dann für den Streamingservice produziert werden. Disney sei immer auf der Suche nach neuen Geschichten, so Spencer. Auf die Frage, wie es sei, mit so vielen Kreativen zu arbeiten, antwortet er: „Wir sind wie eine Familie.“
Es ist ein idyllisches Bild, das Disney seit Jahrzehnten pflegt. Die WDAS sind ein Sehnsuchtsort für Künstler*innen auf der ganzen Welt, was auch im Gespräch nach der Vorstellung anklingt. Und es ist wahr, dass Disneyfilme Generationen geprägt haben. Allerdings hinterlässt Spencers Aussage auch einen bitteren Nachgeschmack. Erst im Januar diesen Jahres kündigte Disneys CEO Bob Iger beim Gewinnaufruf für das erste Quartal an, weltweit ca. 7000 Stellen zu streichen, um Kosten zu sparen. Ziel sei es unter anderem, den eigenen Streamingservice Disney+ profitabler zu machen. Kurz darauf machte sich Unmut in den Sozialen Medien breit. Die Neuigkeiten würden neben der zeitgleichen Ankündigung von drei neuen Animationsfilmen, darunter „Frozen 3“, untergehen.
Leider kommt dies nicht allzu überraschend, denn schon in vergangenen Jahren gab es um Disney immer wieder Aufschreie in den Sozialen Medien. Kulturelle Aneignung, kaum beworbene Filme mit LGBTQ+ Protagonisten und schlechte Arbeitsbedingungen für die Visual Effects (VFX) Künstler*innen in den Marvel Studios. Berichte zu diesen Themen erreichen leider selten die Menge an Menschen, die die Produktionen am Ende auch zu sehen bekommen. Die Empörung verbleibt so vorwiegend auf Plattformen wie Twitter, TikTok oder YouTube. Dort sorgen die Algorithmen dafür, dass vor allem die Leute davon hören, die schon im Vorfeld Interesse an dem Themenkomplex gezeigt haben.
Das diese Dinge bei einem so wichtigen Jubiläum auf der Berlinale nicht angesprochen werden, ist verständlich, aber auch eine vertane Chance. Denn gerade wenn man Animation und ihre Schöpfer*innen feiert, sollte man ihnen mit mehr Respekt gegenübertreten. Immerhin sind es ihre Ideen, die uns seit 100 Jahren verzaubern. (lb)