„Keine Paternoster auf den Lofoten“ – Ein Drehbericht

Der 6,5-minütige Kurzfilm „Keine Paternoster auf den Lofoten“ des Kielers Mins Minssen wurde vor Kurzem mit Unterstützung der Filmwerkstatt S.-H. fertiggestellt. Wir dokumentieren hier einen Drehbericht des Autors Mins Minssen.

Handlung

Das Fährschiff aus Norwegen kommt. Auf diesem Schiff wäre Thomas (Holger Wetzel), angestellt in einer Behörde, gerne Barpianist. Im Hochhaus der Behörde dreht sich der Paternoster. In einer der Kabinen sitzt Thomas mit einem Jazzpiano-Buch. Das Schiff bringt eine junge Norwegerin mit: Kirsti von der Inselgruppe der Lofoten (Christine Fröhling). Kirsti hat eine Leidenschaft: Paternoster Fahren. So trifft sie auf Thomas. Bei sich zuhause spielt er ihr auf dem Klavier vor. Sie fährt ab, und er bleibt da.

Planung und Dreh

Geplant war ein ziemlich anderer Film, und zwar einer über die verschiedenen Mechaniken, bewegt zu werden und das damit verbundene Zeitgefühl. Erste Szene: Am Rande der Autobahn steht die Kamera. Autos rasen auf sie zu und – dschoiiing, dschoiiing – vorbei.

Zweite Szene: Menschen auf der Rolltreppe: Man sieht nur die Füße bei diesem zögerlichen Schritt oder forschem Sprung, je nach Alter und Gelenkigkeit, am Ende der Rolltreppe. – Ich hatte einmal einen Schweizer Künstler kennen gelernt, der sich als Stadttänzer bezeichnete. Er hieß Walter Siegfried und ahmte mit Studentengruppen zur Irritation der Passanten stadttypische Bewegungen nach: Wie von einem Uhrwerk aufgezogen losgehen an der Ampel bei Grün oder eben der leicht riskante Schritt von der fahrenden Rolltreppe auf den ruhenden Boden. Man hätte hier auf dem Film lauter bewegte Beine vom Knie etwa abwärts gesehen. Im Nachhinein erinnere ich mich, dass ein Hitchcock-Film so anfängt. Die Kamera ist auf den Boden gerichtet, und man sieht eiliges Kommen und Gehen von Schuhen.

Dritte Szene: Am Paternoster: Beim Paternoster ist das Risiko beim Betreten und Verlassen noch ein bisschen fühlbarer als bei der Rolltreppe. Man sieht das, wenn in unserem Film Thomas einsteigt und einen Fuß hinterher zieht. Andererseits ist das Bewegtwerden, ist man erst mal drin, bedächtig und auch vorhersehbar. Ein Aufzug dagegen ist schneller, aber auch launischer und uneinsehbarer. Man weiß, nicht wann er kommt oder ob er kommt. Es könnte ihn jemand festgehalten haben. Von der Rolltreppenidee ist nur die kurze Szene übrig geblieben, in der Kirsti im Fährterminal die Rolltreppe hinunterfährt.

In Kiel kenne ich vier Gebäude mit Paternoster: Das Rathaus, das Landeshaus, das HOWE-Haus (Kleiner Kuhberg) und das Kultusministerium an der Brunswiker Straße. Ich habe mich für das Kultusministerium entschieden. Da ist es ruhig, es läuft einem so bald keiner ins Bild. Außerdem gibt es direkt neben dem Paternoster einen Aufzug. Diese Anordnung bot sich für folgende Handlung an: Eine Angestellte wartet am Aufzug und drückt immer wieder den Knopf. Über dem Aufzug befindet sich tatsächlich eine Uhr, an der sich die Wartezeit ablesen ließe, aber der eigentliche Zeitmesser ist der Paternoster. Während die Angestellte auf den Aufzug wartet, kommt mehrmals dieselbe Kabine des Paternosters ins Bild. Dass es dieselbe Kabine ist, kann man aber nur an einer Person sehen, die darin rundherum fährt, ohne je auszusteigen, denn die Kabinen sind sich untereinander so ähnlich wie Herr und Frau Igel in der Fabel von ihrem Wettlauf mit dem Hasen. Die Person in der Kabine benutzt den Paternoster nicht, um von einem Stockwerk ins andere zu kommen, sondern fährt mit ihm Karussell zum bloßen Vergnügen. Es muss eine Person sein, für die ein Paternoster etwas ganz Seltenes und Außergewöhnliches ist. Diese Person ist Kirsti. Sie ist ein Paternoster-Fan, so wie es Straßenbahn-Fans gibt. Kirsti lebt auf den Lofoten, die für Abgeschiedenheit stehen. Dort gibt es keine Paternoster. Als Paternoster-Expertin weiß Kirsti aber, dass es in Kiel solche Beförderungsmittel gibt. Vielleicht gibt es Paternoster-Fan-Magazine oder entsprechende Internetseiten. Da stehen auch Adressen drin. Kirsti braucht nur einen Stadtplan von Kiel. Den findet sie am Kiosk der Fähre von Kiel nach Oslo, wie man im Film sieht. Auf Grund des kleinen Budgets sehen wir keine Außenaufnahmen von den Lofoten, wo Kirsti irgendwann dem Melkschemel einen Fußtritt geben würde mit dem Ruf: Ich will hinaus in die Welt und etwas erleben: Paternoster Fahren im schleswig-holsteinischen Kultusministerium. Die Lofoten sind repräsentiert durch Bild und Schriftzug auf Kirstis T-Shirt und Lofoten-Bild und -Inschrift auf einem Andenken-Teller am Kiosk des Fährschiffs. Als Alibi, um der immer noch fadenscheinigen Existenz von Kirsti von den Lofoten etwas Handfestes zu verleihen, brauchte ich die Festmacher, Helden der Arbeit, von unten gegen den Himmel aufgenommen wie Denkmäler. Wo zwei solche Kerle sich in Bewegung setzen, da ist Wirklichkeit. Ein merkwürdiger Augenblick ist das Festmachen. Da kommt so ein Schiffs-Koloss, und dann fliegen zunächst die dünnen Wurfleinen durch die Luft, und der Unkundige denkt, damit würde das Schiff festgemacht, so wie Gulliver von den Liliputanern mit vielen dünnen Stricken gefesselt wurde. Das hat wieder etwas Unwirkliches: Schiff mit Lasso eingefangen.

Gut, ich hatte mir die Drehgenehmigungen für Schiff und Behörde besorgt. Der Dreh dauerte etwa einen halben Tag. Am Ende langen Wartens wendet sich die Angestellte (Astrid Burmeister-Bünder) vom Aufzug ab und steigt auch in den Paternoster ein. Die Moral ist deutlich: Stetige Langsamkeit besiegt sprunghafte Schnelligkeit. Der Aufzug ist der Hase, der Paternoster der Swinegel, der immer schon da ist. Außerdem ähnelt die Kabinenfolge des Paternosters einem Film, jede Kabine ein Bild, ein „Frame“. Der Blick aus der Kabine ist der Blick der Camera obscura. So fängt der Film an: Aus dem fahrenden Paternoster sieht die Kamera ins Gegenlicht eines Treppenhauses, in dem sich eine Figur als Schattenriss abzeichnet.

Nach dem Dreh lud ich meine Darstellerinnen zum Essen ein, und wir sprachen über den Film. Christine bedauerte, dass es darin keine Liebesgeschichte gebe. Mir fiel Reich-Ranicki ein und sein mit rollendem R vorgetragenes Credo: „Für die Literrraturrr gibt es nur zwei Themen: Die Liebe und den Tod.“ Mir schwante, dass es im Kino ähnlich sein könnte, und so wurde Holger Wetzel als jugendlicher Liebhaber Thomas engagiert. Der Film bekam wieder einen neuen Dreh. – In einem Interview sagte Lars von Trier, er liebe die seiner Filme am meisten, die ein Eigenleben entwickelten, sich von der Vorlage entfernten und ihn überraschten. – Mit Thomas alias Holger Wetzel machte ich gelegentlich Musik, und wenn er auf den Tasten fantasierte, bis ich schließlich ein Thema erkannte, pflegte ich zu sagen: „Also, angenommen du wärest Pianist auf der ‚Kronprins Harald‘ und ich käme in die Bar, würde ich mich fragen, ob du nicht ‚Sentimental Journey‘ spielst.“ So wurde Holgers Rolle die eines Angestellten, der von einer Barpianistenstelle auf einer norwegischen Fähre träumt. Für seine Bewerbung würde er ein wenig Norwegisch brauchen, und so entstand für den Anfang des Films die kleine norwegisch-deutsch-englische Parodie auf Sprachkurse mit ihren schlichten Bild-Geschichten und den kurzen tautologisch klingenden Sätzen nach dem Muster: Herr Johannsen will verreisen. Dies ist ein Koffer (Der Koffer ist deutlich abgebildet. Man sieht, dass es nicht die Zahnbürste ist. Herr Johannsen trägt die übergroßen Tickets in der Hand. Das Gebäude trägt die Aufschrift „Bahnhof“, usw.). Sidsel Rothert beriet mich bezüglich der norwegischen Texte. Ich spreche die Texte zu englischen und deutschen Untertiteln.

Für Thomas könnte die Behörde ein uneingestandener Albtraum sein. Die Kamera sieht mit seinen allmorgendlichen Augen, von unten tastet sie sich zögerlich die Fassade des Büro-Hochhauses hoch, das auf gespreizten Betonpfeilern aufragt. Thomas ist so klein, die Behörde so groß. Es ist ansatzweise der Blick von Kafkas Landvermesser K. auf das Schloss, eine unverständliche Beamtenburg, deren Vertretern man es nie recht machen wird. Dann kommt das schwarze Zahnrad, das Assoziationen an die Menschen verbrauchende Maschinenwelt in Fritz Langs „Metropolis“ beschwören könnte, aber auch an den Transportmechanismus einer Filmkamera denken lässt. Im Gegensatz zur Angestellten im Nadelstreifenanzug trägt Thomas wie zuhause kurze Hosen. Hier wird er es zu nichts bringen. Dennoch bewegt er sich einigermaßen sorglos im behördlichen Getriebe. Er ist letztlich unverwundbar, ein Luftikus mit einem beschützenden Traum: Das Barpiano auf dem Fährschiff wartet.

Beim Drehen am Paternoster gab es Probleme. Holger war noch nie Paternoster gefahren und das kleine Angstmoment vor dem Einsteigen war für ihn ein großes. Er ließ sich aber gut zureden und sah ein, dass ein Stuntman für diese Szene übertrieben gewesen wäre und angesichts des kleinen Budgets, das voll und ganz aus meinem Sparbuch bestritten wurde, auch zu teuer. Die Stuntman-Idee war eine erkennbare Bosheit von mir.

Christine, ausgebildete Schauspielerin, hatte keinerlei Ängste. Die Idee, die Paternosterkabine mit Hilfe einer dieser traurigen Pflanzenkübel, wie sie in allen Behördenfluren herumstehen, wohnlich zu machen, kam von ihr. Es ist streng verboten, im Paternoster Gegenstände zu transportieren, die größer als eine Aktentasche sind, und es machte ziemliche Mühe, den rechten Augenblick abzupassen, um zügig die Pflanze in die vorbeifahrende Paternosterkabine zu schieben, die dann auch von unten bis oben von dem trostlosen Bäumchen ausgefüllt war. Im Paternoster macht es sich Kirsti dann mit Utensilien aus dem großen Rucksack gemütlich: heimatlicher Melkschemel, Wikinger-Trinkhorn, Kräuterlikör aus dem Duty-Free-Shop der Fähre, dazu eine große Brezel, die es auf den Lofoten so auch nicht gibt.

Der Schnitt

Zur Kulturellen Filmförderung Schleswig-Holstein kam ich, um mir von Lorenz Müller den digitalen Filmschnitt beibringen zu lassen. Ich hatte einen Schnittplan von 45 Clips (Szenenschnipseln) meines Materials gemacht und die Reihenfolge bestimmt, in der sie im Film erscheinen sollten. Meine Vorstellung war, dem Plan entsprechend diese Clips (gekürzt, wo nötig) zu der entsprechenden Sequenz aneinanderzuketten, und fertig wäre der Dogma-Film: Ein scharfer Schnitt nach dem anderen. Soweit kam ich auch und lernte von Lorenz, dass die Dogma-Filmer scharfe Schnitte bezüglich der Bilder machen, den Ton aber überblenden. Der Ton bestimmt Orte und deren Wechsel. Ein Beispiel in unserem Film ist der Moment, in dem Kirsti Thomas Wohnung verlässt und leise die Tür hinter sich zuzieht. Während sie das tut, ist das Geräusch, der sich schließenden Ladeklappe der Fähre zu hören, mit der sie abfährt. Erst dann kommt mit scharfem Bildschnitt die Klappe ins Bild und fällt donnernd zu. Dem zarten Abschied folgt ein durch technische Fühllosigkeit geprägter zweiter, fast gewaltsamer.

Lorenz synchronisierte die Bewegungen von Tür und Fährklappe aufeinander und machte die Tonüberblendung. Ich merkte sehr schnell, dass ich gekonntes Schneiden vielleicht gar nicht oder jedenfalls nicht so schnell lernen würde, wie ich den Film fertig haben wollte. Es gab einerseits Probleme aus meiner technischen Unbelecktheit heraus. Den Computer benutze ich sonst nur zum Schreiben. Es würde aber auch lange dauern, bis ich den geübten Blick des Cutters erworben hätte. Lorenz zeigte mir Unstimmigkeiten und Schwächen im Bildaufbau und in der Bilderfolge, die mir ohne seinen Hinweis nicht bewusst geworden wären. Ich finde Arbeitsteilung beim Filmemachen sehr vernünftig und fragte Lorenz, ob er sich vorstellen könne, in diesem Projekt der Cutter zu sein.

Wenn der Regisseur seinen Film einem Cutter anvertraut, liefert er sich auch ein Stück weit aus, auch wenn er beim Schneiden daneben sitzt. Der Cutter führt eine Zweit-Regie, manchmal sogar die bestimmende. Der Regisseur sagt zum Cutter das, was der Sprachführer (siehe oben) dem Kunden angesichts eines talentierten italienischen Haarkünstlers zu sagen empfiehlt: Mi metto nelle Sue mani, Maestro. – Ich gebe mich in ihre Hände, Maestro. Eine andere Assoziation ist: Es ist ein Schnitter, heißt der Tod, hat all sein G’walt vom lieben Gott.

Von den Schwächen in meiner Sequenz waren einige leicht behebbar, andere von struktureller Natur. Eine von den letzteren war, dass mir zwar die neue Handlung zwischen Thomas und Kirsti immer besser gefiel, ich aber die alte – Swinegel Paternoster läuft dem Hasen Aufzug davon – immer noch mitschleppte, ohne sie überzeugend ins Bild gesetzt zu haben. „Im wörtlichen Bildsinne ist diese Handlung marginal, eben randständig“, merkte Lorenz an und hatte recht: Der Paternoster mit seinen beiden nebeneinander laufenden Kabinenketten nimmt den weitaus größten Teil der Bildfläche ein, während sich der schmalbrüstige Aufzug samt der zurückhaltenden Angestellten an den linken Bildrand drückt. Der Aufzug hat schon verloren, wenn der Wettlauf beginnt. Hier konnten das Warten und die schließliche Umentscheidung der Angestellten für den Paternoster weg geschnitten werden, und das von Kirsti bewohnte Paternoster-Karussel gewann dadurch an Tempo: Abwärts, aufwärts, abwärts ist aufeinander folgend die von Kirsti besetzte Kabine zu sehen. Die Rolle der Behördenfrau reduziert sich aufs erstaunte Zusehen.

Andere Dinge betrafen die Glaubwürdigkeit eines Ortes oder einer Handlung: Obwohl Kirsti tatsächlich im Inneren des Schiffes vor dem Kiosk stand, wirkte die Szene nicht „schiffig“. Der Schiffskiosk war von einem Kiosk in einem Supermarkt an Land nicht zu unterscheiden. Daher wurde das Geräusch einer Schiffsmaschine unter die Szene geschnitten, das der Pianist meines Jazz-Quartetts aufgenommen hatte, als wir einmal auf einem Schiff Musik gemacht hatten. Nun stimmte die Atmosphäre.

Ein entscheidender Moment im Film ist die Begegnung zwischen Thomas und Kirsti beim Paternoster Fahren. Sie hat dort real aber nicht stattgefunden. Als die Rolle des Thomas in den Film aufgenommen wurde, waren die Paternoster-Szenen mit Christine schon abgedreht, und Christine war nach Hamburg zurückgefahren. Ich drehte die Begegnungsszene allein mit Holger Wetzel alias Thomas. Er sollte sich nach dem Verlassen des Paternosters so umdrehen, als habe er aus der nachfolgenden Kabine etwas gehört, zurückgehen und von oben in den Paternosterschacht gucken. Den Gegenschuss gab es bereits im Material: An einer Stelle sieht Kirsti nach oben, als erblicke sie jemanden. In dem Film gibt es keine Dialoge. Die Bilder sollen die Geschichte erzählen. Hier ist ein Geräusch aber so wesentlich für die Handlung, dass es nach Lorenz‘ Meinung vorhanden sein musste. Obwohl meine Figuren stumm sein sollten, summt Christine aus eigenem Antrieb hier, aber zu leise. Da sie nicht am Ort wohnt, ließ ich eine andere Person, Bettina Watermann, Kirstis Stimme sein, nahm deren Summen auf (nach einem norwegischen Volkslied) und präsentierte es Lorenz, der plötzlich Bedenken bekam bezüglich der Vielfalt der musikalischen Themen in dem Film. Holger spielte in seiner Rolle als zukünftiger Barpianist folgerichtig mal dieses, mal jenes Thema an. Durch diese dauernd wechselnden Melodieanklänge bekäme der Film trotz stimmiger Bilderfolge etwas Sprunghaftes, Fahriges, meinte Lorenz. Es wäre gut, eine wiederkehrende Melodie zu haben, die dem Film im Tonbereich einen zusätzlichen roten Faden gäbe. Ich wählte ein Motiv aus, das mein Pia
ist und ich aus dem Film „Betty Blue“ herausgehört hatten (die e
tsprechende Szene spielte dort in einem Klaviergeschäft) und über das mein Jazz-Quartett häufig improvisiert. Als Thomas in unserem Film vorgestellt wird, spielt er es auf dem Klavier. Es wird Kirstis Motiv, leise eingeleitet von einem Akkordeon, dem das Maritime untermalenden Schifferklavier, während die Fähre näher kommt. Bettina bekommt das Thema zum Summen. Das Summen wird dem Geräusch des Paternoster-Zahnrades unterlegt, bevor Kirsti ins Bild kommt. Dann wird die Tonfolge in eine swingenden Improvisation meiner Jazzband aufgenommen, während das Paternosterkarussell mit Kirsti kreist. Schließlich hört diese Melodie, wieder gesummt, Thomas, als er aus dem Paternoster steigt, und nun wird plausibel, warum er sich umwendet, und dass er an diesem Ort Kirsti finden wird.

Die angeführten Beispiele – es gäbe viele mehr – machen deutlich, warum der Cutter mehr ist, als ein bloßer technisch versierter Knöpfchendrücker. Wenn Regisseur und Cutter sich verstehen, verschmelzen beider Handschriften zu einer neuen gemeinsamen. Ich denke, das war hier der Fall.

Ein Film ist genau wie eine mündlich erzählte Geschichte eine kalkulierte Erzählung. So wie der Erzähler seine Worte und Pausen, sein Schreien und Flüstern auf Wirkung berechnet einsetzt, so handeln Regisseur und Cutter mit Bildern und Tönen in ihrem Film auch. Und dennoch gibt es ein Eigenleben der Dinge gegen alle Kalkulation. Einige machen unerwartet die Widerständigkeit ihrer realen Existenz deutlich, huschen wie Kobolde durchs Bild, halten sich nicht an den Rahmen. Der Regisseur hat sie nicht bestellt, die Kamera fängt sie kurz ein und muss sie wieder laufen lassen, dem Cutter bieten sie keine Substanz.

In diesem Film ist der Kobold ein kleiner weißer Papierschnipsel. „Wo?“, fragt Lorenz Müller. Selbst den wachsamen Augen des Cutters ist er entgangen. Der flüchtige Schnipsel irrlichtert vor der blauen Heckklappe der abfahrenden Fähre, spöttisch im Wind über dem Schraubenwasser tanzend, genau eine Sekunde lang, 25 Einzelbilder umfassend. Ich habe nachgezählt. Dann stiehlt er sich links aus dem Bildgefängnis. Dieser Fitzel unvereinnahmbarer Realität ist ein Geschenk an mich, eine Sternschnuppe. Ich darf mir was wünschen.

Der nächste Schnitt zeigt das Heck der Fähre, wo sich die Passagiere drängen, und schon winkt Kirsti unter der norwegischen Flagge ein Lebewohl, während zur leise ausklingenden Titelmelodie der Abspann einsetzt. Die Regieanweisung war: „Winke so, dass die Zuschauer Lust bekommen, zurückzuwinken.“ Diese Szene habe ich im Gegensatz zum auf Digital-Video aufgenommenen Film im alten Amateurformat auf Super-8-Celluloid gedreht. Video ist Präsenz: So ist es jetzt. Super-8 steht für mich dagegen für das Imperfekt, das „Es war einmal“ des Erzählers.

Das war sie, die Geschichte von Kirsti von den Lofoten, die auszog, um in Kiel das Paternoster Fahren zu lernen, ein deutsch-skandinavisches Märchen. Der Super-8-Film dreht sich aus der Spule. Man hört das Rattern des Projektors. Auf der Leinwand flackert Licht. (Mins Minssen)

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