46. Nordische Filmtage Lübeck
Groteske von Sein und Schein
„Illusive Tracks / Skenbart“ (S 2003, Peter Dalle)
„Nichts ist notwendigerweise das, was es zu sein scheint“, schrieb der deutsche Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein. Der schwedische Schriftsteller Gunnar Wern ist Wittgenstein-Fan und macht sich Ende 1945 mit dem Zug auf nach Berlin, um dort beim Wiederaufbau zu helfen. Doch nicht in Berlin, sondern schon im Zug erwarten ihn Katastrophen und deren Vor- und Abbilder. Da sind der welt- und liebesschmerzende Schwule, der Arzt und seine Geliebte, die den perfekten Tablettenmord an seiner Frau planen – und vergeigen, baltische Flüchtlinge auf dem Weg vom Nirgendwo ins Nirgendwo, ein pedantischer Schaffner und ein verwundeter Soldat, der bei jeder slapstickhaft ungeschickten Begegnung mit Gunnar noch eine Versehrung hinzubekommt.
Am Sinn des Lebens Versehrte sind sie alle samt, die in der „Stunde Null“ nach Berlin reisen. Und so kommt auch fast keiner heil an. In einer Groteske zwischen Chaplin-Slapstick, Film Noir und Remineszenz an Jacques Tourneurs „Berlin Express“ lässt Peter Dalle die Puppen tanzen an den verwirrten und sich immer mehr verwirrenden Fäden des Daseins. Wo das Sein so brüchig und zwischen den Welten ist, regiert der Schein, manchmal nur schön, meist aber schrecklich. Dalle lässt keine abstruse Wendung aus, um die so oder so Versehrten in noch eine weitere der selbst aufgestellten Fallen tappen zu lassen. Der brachiale Witz, die Anleihen bei Splatter- und Horror-Movie wirken dabei bisweilen allzu pubertär verspielt. Aber sie zeigen in allem Komödiantischen doch, dass der Sinn des Daseins, wenn nicht nur Schein, dann doch Irrsinn ist.
Wo Wittgenstein das Problem des Scheins im Sein auf aphoristische Punkte bringt, setzt der Film seine Sätze fort, schreibt sie hinein in die Groteske und ist damit im besten Sinne philosophisch. Und ein Porträt einer Epoche, die wie am Ende der mörderische Arzt aus dem Zug und dem Leben fallen muss, um in der Welt des Films, dem Schein vom Sein an sich, doch noch zu sich zu kommen.
So viel Scheinen im Sein konnten sich bei den Nordischen Filmtagen weder das Publikum, noch die Jury entziehen. „Illusive Tracks“ gewann sowohl den NDR-Förderpreis als auch den Publikumspreis der „Lübecker Nachrichten“. (jm)